Quelle: Gettyimages.ru © Carsten Koall/dpa Tino Chrupalla (l) und Alice Weidel (r), während der Aufstellung der AfD-Kandidaten zur Europawahl am 30. Juli 2023 in Magdeburg
Von Maxim Sokolow
Es ist auf den ersten Blick nicht verwunderlich, dass der Zuspruch für die Alternative für Deutschland (AfD) stetig wächst. Die regierungstreue Presse kann zwar erklären, dass die AfD die schlimmste Nazipartei ist (ohne jedoch überzeugende Beispiele für ihren Nazismus zu liefern). Da jedoch der “Erfolg” der Regierungskoalition für sich selbst spricht, lässt sich der Aufstieg der konsequentesten Oppositionspartei kaum noch vermeiden.
Die CDU/CSU liegt in der Wählergunst an erster Stelle (27 Prozent), die AfD auf Platz zwei (21 Prozent), und die Regierungsparteien landen in Umfragen mit weniger als 20 Prozent irgendwo im hinteren Bereich. Angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs in Deutschland ist die Troika aus Scholz und den Grünen Habeck und Baerbock etwas ganz Verwunderliches. Es ist kein Zufall, dass die Bundesbürger bei der Suche nach einem Ausweg nach dem Prinzip “Egal was, Hauptsache kein Rot-Grün” vorgehen.
Es ist sogar so weit gekommen, dass der CDU-Vorsitzende Merz – entgegen allen Vorgaben von Tantchen Merkel, die jede Zusammenarbeit mit der obszönen AfD zum Tabu erklärt und die “Nazis” zur ewigen politischen Isolation verdammt hatte – die Möglichkeit einer solchen Zusammenarbeit angesprochen hat. Wenn auch unter Vorbehalt. Offensichtlich war er von dem arithmetischen Ausdruck “27 (Christdemokraten) + 21 (die des Neonazismus Beschuldigten) = 48 (stabile Regierungsmehrheit)” entzückt. Merz wurde schnell zurechtgewiesen: “Das sind apolitische Erwägungen, Herr Merz, apolitisch.” Und er machte einen Rückzieher, aber das Problem blieb.
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Und es gibt noch ein weiteres Problem. Die skandalösen 21 Prozent der AfD sind trotz aller Todsünden, die der Partei vorgeworfen werden, ein gesamtdeutscher Wert, der für das traditionelle Establishment wenig schmeichelhaft ist.
In den neuen Bundesländern jedenfalls (obwohl sie nicht mehr ganz so “neu” sind – seit dem Anschluss sind mehr als 30 Jahre vergangen), also in der ehemaligen DDR, beansprucht die “Alternative” durchweg den ersten Platz in den Umfragen. Und das ist erst recht unkoscher und empörend.
Schließlich ist die AfD eine europaskeptische Partei, sie ist gegen Ursula, Borrell, Michel und Brüssel als solches, sowie gegen den Euro. Gleichzeitig ist sie Russland gegenüber recht loyal – zumindest behandelt die Partei das Land nicht als ein finsteres Mordor. Wenn die AfD Neonazis sind, dann sind das überaus seltsame Neonazis – Dr. Goebbels’ Idee, die europäische Zivilisation vor den Horden aus dem Osten zu schützen, ist ihnen fremd. In diesem Sinne ist die grüne Außenministerin Annalena Baerbock dem Reichspropagandaminister viel näher. Die AfD hingegen scheint eher dem politischen Erbe Bismarcks zugeneigt zu sein.
Und da liegt das Rätsel: Es ist heute unvorstellbar, dass eine “Alternative für das Baltikum” oder eine “Alternative für die Tschechische Republik” in ihrem jeweiligen Land 20 Prozent der Wählerstimmen beanspruchen könnte. Geschweige denn, dass sie sich 50 Prozent nähern würde, wie die AfD in den ostdeutschen Bundesländern.
Zur Erklärung für das Wuchern der Russophobie in Tschechien und dem Baltikum werden gemeinhin vermeintliche Kränkungen angeführt, die diesen Ländern während der Zeit des Kommunismus zugefügt wurden. Sie seien so groß, dass sie zur ewigen Feindschaft gegen Russland geführt hätten.
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Man kann die Bitterkeit dieser Kränkungen unterschiedlich bewerten, aber es stellt sich die Frage: Haben die Ostdeutschen, unter denen, wie wir sehen, alternativ-deutsche (und auch linke) Gesinnungen recht populär sind, überhaupt keine Erinnerung an die Sowjetzeit?
Zu DDR-Zeiten hatten sie die Berliner Mauer permanent vor ihren Augen, und es ist nicht so, dass der “antifaschistische Schutzwall” (wie die Mauer in der DDR offiziell hieß) allen gefallen hätte. Zumal es neben der Mauer auch eine lange innerdeutsche Grenze gab, deren Bewachung erst 1989 aufgehoben wurde.
Ich habe diese Grenze zweimal mit dem Zug überquert – 1991 und 2004 – und der Kontrast zwischen den beiden deutschen Staaten war nicht nur 1991 sehr stark (das ist verständlich), sondern auch 2004. Da ist Niederbayern, und hier sind Sachsen und Thüringen – sehr unterschiedliche Bilder. Es scheint, dass dies ein passender Anlass wäre, die UdSSR, also Russland, anzuprangern, das ein so düsteres Erbe hinterlassen hat.
Die Balten sagen, dass sie ohne die sowjetische Besatzung von 1939 bis 1991 ein unermesslich reicheres und bunteres Leben gehabt hätten. Sie fordern, dass die Russen für alles bezahlen sollen.
Nicht so die Ostdeutschen. Und auch nicht die Ungarn, die bei Bedarf auch an die Zeit der “sozialistischen Brüderlichkeit” erinnern könnten, wenn sie wollten. An den kommunistischen Fanatiker Rákosi etwa, oder an den Oktober 1956.
Und dann sind da noch die Finnen, die die Härten des Kommunismus überhaupt nicht erlebt haben. Was sie aber heute nicht daran hindert, einen herausragenden antirussischen Eifer an den Tag zu legen, sogar zu ihrem eigenen Schaden.
Bei der Erklärung der Gründe für diese widersprüchlichen Wahrnehmungen in den Ländern Mittel- und Osteuropas (einige von ihnen sind Putinversteher, während andere nichts verstehen und nichts verstehen wollen und selbst in den Versuchen eines solchen Verstehens “Volksverblödung, das abscheulichste Verbrechen von allen” sehen), sollten wir das Schlüsselwort im Namen der angeblich neonazistischen deutschen Partei beachten: “Alternative”. Von ihm leiten sich alle Eigenschaften ab.
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Eine Alternative ist die Suche nach einer eigenen Lösung für die Probleme des Landes. Die Lösung kann alles Mögliche sein – gut oder nicht so gut, das muss sich erst zeigen. Aber in jedem Fall ist sie eine eigene. So wie in Ungarn und so wie bei der AfD.
Das Gegenstück davon ist es, dem “Großen Bruder” bedingungslos zu dienen. Im frühen Mittelalter gab es die commendation – einen rituellen Akt, mit dem der Eintritt in die Vasallität vollzogen wurde. Es war der freiwillige Verzicht auf den freien Status im Gegenzug für die Gunst eines Lehnsherrn.
Das gibt es auch heute. Einige formal souveräne Länder haben die commendation vollzogen und ihre Souveränität de facto aufgegeben, weil sie die Vorteile und Freuden eines bedingungslosen Dienstes am Großen Bruder vorziehen. Andere, die nicht bereit sind, nach jedem Pfiff des Lehnsherrn zu tanzen, halten es für notwendig, ihre Souveränität zu bewahren. Wofür der Lehnsherr sie als Alternative oder eben als “Neonazis” brandmarkt.
Übersetzung aus dem Russischen .
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