Quelle: www.globallookpress.com © Nidal Eshtayeh Folgen eines israelischen Luftangriffs in Dschenin, Westjordanland, 23.03.2024
Von Maria Müller
In der vergangenen Woche fand im “Friedenspalast” in Den Haag eine Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) über die rechtlichen Konsequenzen der israelischen Besatzungspolitik auf palästinensischem Territorium statt. Dieses Verfahren wird auf Antrag der UN-Generalversammlung durchgeführt. Vor einem Jahr, im Dezember 2022, hatte eine Staatenmehrheit den IGH gebeten, ein Rechtsgutachten zur Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel zu erstellen. Die Anhörung läuft vom 19. bis zum 26. Februar. Das Verfahren ist unabhängig vom Antrag Südafrikas, mit dem das Land Ende Dezember 2023 den IGH um Prüfung des Verdachts auf Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza durch Israel ersuchte.
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Ein Team von 15 Richtern soll nun die rechtlichen Konsequenzen der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser durch Israel feststellen. Die Besetzung, Kolonisierung und anhaltende Annexion palästinensischen Territoriums seit 1967 steht diesmal im Mittelpunkt. Die Richter sollen über die Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung entscheiden, mit der das Gebiet eines künftigen palästinensischen Staates schrittweise zerstückelt und damit seiner Lebensfähigkeit beraubt wird. Dazu zählt auch die Annexion von Ost-Jerusalem im Jahr 1980, wo seitdem diskriminierende Gesetze zur Änderung der demografischen Zusammensetzung, des Charakters und des Status der “Heiligen Stadt” herrschen.
Im Laufe der vergangenen Jahre verfasste das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mehrere Berichte, in denen diese Besetzungen “aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit und der faktischen Annexionspolitik der israelischen Regierung” für illegal erklärt wurden. Bisher hat das jedoch kein Richter bestätigt.
Insgesamt standen 52 Staaten und drei Organisationen – die Afrikanische Union, die Arabische Liga und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit – bei der Anhörung auf der Rednerliste.
Das Tribunal ist nach über 50 Jahren Vertreibung ein “historisches Ereignis”
Der palästinensische Botschafter in den Niederlanden, Rawan Sulaiman, bezeichnete das Verfahren als historisch:
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“Dieses Tribunal ist nicht nur ein historisches Ereignis für unser Volk und unsere gerechte Sache. Es ist auch historisch für das Völkerrecht und die internationale Gerechtigkeit.”
Die Delegation Palästinas wurde von Außenminister Riyad Al-Maliki geleitet, der den ersten Redebeitrag hielt. Er beschuldigte Israel des “Kolonialismus und der Apartheid”, während er das Gericht aufforderte, zu erklären,dass
“Israels Besetzung von Territorien, die für einen palästinensischen Staat gedacht sind, illegal ist und sofort beendet werden muss. Seit über einem Jahrhundert wird das unveräußerliche Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung geleugnet und verletzt.”
Der Anwalt Palästinas beim Internationalen Gerichtshof stellte fest, dass die langjährige Besetzung der Gebiete durch Israel schwerwiegend rechtswidrig sei. Nach internationalem Recht könne eine Besatzung nur ein vorübergehender Zustand sein.
Vusi Madonsela, der Vertreter Südafrikas, sagte:
“Israel praktiziert eine noch extremere Form der Apartheid, als wir es in Südafrika erlebt haben.”
Auch die Vereinigten Staaten, China, Russland, Südafrika und Ägypten nehmen an den Anhörungen teil. Mehrere südamerikanische Länder äußerten in Den Haag scharfe Kritik an Israel, darunter Kolumbien, Brasilien und Chile.
Israel betonte schriftlich, Palästina verweigere eine Zwei-Staaten-Lösung
Israel selbst sprach nicht in Den Haag. Das Land hat im Juli 2023 dem Gericht einen kurzen, fünfseitigen Schriftsatz vorgelegt, in dem es das Verfahren ablehnte und “eine klare Verzerrung der Geschichte” des Konflikts anprangerte. Außerdem kritisierte es “die Weigerung der palästinensischen Führung, Angebote zur Beilegung des Konflikts und zur Gründung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels anzunehmen”. Das Dokument wurde dem Gericht vorgelegt. Sprecher der Klägerstaaten wiesen jedoch darauf hin, dass die Regierung Netanjahu eine Zwei-Staaten-Lösung ablehne.
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Das strategische Ziel: den Gaza-Streifen zu entvölkern
Das Gerichtsverfahren findet inmitten der Schrecken der israelischen Bombardierungen gegen die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens statt, einem letzten Zufluchtsort für mehr als eine Million Palästinenser, nachdem diese vor israelischen Angriffen in den Süden der Enklave geflohen waren.
Nach Darstellung von Riyad Al-Maliki verfolge Israel seit Beginn des Krieges gegen die Zivilbevölkerung Palästinas ein klares strategisches Ziel: den Gaza-Streifen unbewohnbar zu machen und die Bevölkerung zu vertreiben. Gleich am ersten Tag des Krieges habe Staatschef Netanjahu alle Bewohner aufgefordert, den Gaza-Streifen in Richtung Ägypten zu verlassen. Seitdem habe das israelische Militär die Menschen aus dem Norden bis nach Rafah im äußersten Süden der Enklave vertrieben. Israel wolle sie jetzt noch über die Grenze nach Ägypten drängen. Das sei das Hauptziel dieser Militäroperation.
Gutachten sind rechtlich nicht bindend, schaffen jedoch Konsequenzen für Drittstaaten
Obwohl die Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs nicht bindend sind, haben sie nach Meinung von juristischen Experten dennoch “großes rechtliches Gewicht und moralische Autorität”. Auch die Beziehungen von Drittstaaten zu Israel würden im Falle seiner Verurteilung beeinflusst und könnten ebenso rechtlichen Konsequenzen unterliegen. Denn nach der Konvention zur Verhinderung von Völkermord macht sich ein Staat als Waffenlieferant an einen anderen Staat zum Komplizen dieses Verbrechens, wenn die Waffen dafür eingesetzt werden. Vor kurzem beantragte Nicaragua deshalb vor dem Internationalen Gerichtshof ein Ermittlungsverfahren gegen die deutsche Regierung sowie gegen Großbritannien, die Niederlande und Kanada.
Die Mauer
Es ist das zweite Mal, dass die UN-Generalversammlung den Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten zum besetzten palästinensischen Gebiet bat. Bereits im Juli 2004 stellte das Gericht fest, dass die israelische Trennmauer im Westjordanland gegen internationales Recht verstoße und abgebaut werden müsse. Sie besteht bis heute – und erinnert an die Berliner Mauer, die über 30 Jahre lang ununterbrochen von der westlichen Politik und den Medien in den höchsten Tönen verurteilt wurde. Die Gaza-Mauer hingegen ist kaum bekannt.
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Hätte dieses Verfahren früher stattgefunden, wäre Israel bei seinem Angriff auf palästinensische Gebiete womöglich gebremst worden. Zugleich hätte die palästinensische Bevölkerung die große internationale Unterstützung stärker wahrgenommen und auf eine Lösung des Konflikts durch die UNO vertraut. Womöglich wäre der Verlauf der Geschichte gerade noch rechtzeitig in andere Bahnen gelenkt worden, um die dramatische Eskalation zu verhindern. Allerdings werden die Richter wahrscheinlich auch weiterhin Monate dafür brauchen, eine Stellungnahme abzugeben. Angesichts der verzweifelten Situation in Gaza überschattet die Arbeitsweise des Gerichts seine Glaubwürdigkeit.
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