Quelle: www.globallookpress.com © IMAGO/elyxandro cegarra Ursula von der Leyen, 22.11.2022.
Von Dagmar Henn
Wenn es in der Kriegsführung der Ukraine ein streng gehütetes Geheimnis gibt, dann sind es die eigenen Verluste. Das war bereits 2014 und 2015 so. Die wirklichen Verluste etwa im Kessel von Debalzewo sind bis heute nicht bekannt.
Militärisches Geheimnis ausgeplaudert? Von der Leyen löscht Äußerung zu ukrainischen Verlusten
Dabei geht es nicht nur darum, dass hohe Verluste demotivierend sind, die Mobilisierung erschweren und nicht zur Beliebtheit der Regierung beitragen. Es kursierte auch immer wieder ein schlichtes ökonomisches Motiv. Ukrainische Kommandeure erhalten den Sold für ihre Soldaten − und Gefallene nicht zu melden, bringt einen unmittelbaren Vorteil. Auch der Staat spart, weil ansonsten Zahlungen an die Hinterbliebenen fällig wären. Deshalb sind auf den meisten Listen, die im Laufe der Jahre immer mal wieder aus den Reihen des ukrainischen Militärs an die Öffentlichkeit gelangten, die Zahlen der Vermissten weit höher als die der Gefallenen.
Und nun hat Ursula von der Leyen eine Zahl ausgeplaudert, in einem Video. Das Video wurde zurückgezogen, die Europäische Kommission erklärte inzwischen, da sei es nicht um Tote allein, sondern um Verwundete sowie Tote gegangen, und jetzt gibt es das Video nur noch ohne diesen Satz. Der ukrainische Generalstab beziehungsweise dessen Pressesprecher meldete sich gegenüber der Zeitung Ukrainskaja Prawda und erklärte: “Wir können diese Zahl nicht bestätigen, wir betonen, dass die Verluste der ukrainischen Armee eine Dienstinformation sind und unter die Veröffentlichungsbeschränkungen fallen. Wir können nur Handlungen unterstützen, die die rechtliche Bestrafung jener fördern, die den Genozid am ukrainischen Volk organisiert haben.”
Lassen wir einmal die Behauptung des Genozids beiseite, die bei den von der EU-Kommissionspräsidentin genannten Zahlen nicht im Mindesten haltbar ist. Sie sprach von 20.000 getöteten Zivilisten und 100.000 getöteten Soldaten, was eine erstaunliche Zahl ist, weil in den meisten Kriegen weit mehr Zivilisten als Soldaten ums Leben kommen und dieses Verhältnis das Gegenteil eines Genozids belegt, nämlich eine statistisch ungewöhnliche militärische Vorsicht.
Aber zurück zu von der Leyens 100.000. Die Aussage ist noch ein wenig schwieriger, weil von der Leyen nicht von “servicemen” oder “soldiers” spricht, sondern von “military officers”, also genaugenommen nicht von Soldaten, sondern von Offizieren. Jetzt ist von der Leyen nicht für ihr gutes Englisch bekannt, so dass man nicht sicher sein kann, dass gemeint wurde, was gesagt wurde. Das Rätsel um diese Zahl oder, mehr noch, um die Funktion, die diese Zahl erfüllt, wird dadurch nur noch größer.
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In all den Monaten war die ganze westliche Medienlandschaft peinlichst bemüht, ukrainische Verluste mit dem Mantel des Schweigens zu bedecken. Die hochgeschriebenen Offensiven in Cherson im August und September hatten tatsächlich Zehntausende das Leben gekostet, aber das wurde nicht einmal erwähnt. Das hat nicht nur mit der Bestrebung zu tun, das vielfach von nichtmilitärischen, werbetechnischen Gründen angetriebene Vorgehen des ukrainischen Militärs zu decken, sondern auch mit der aufs Äußerste infantilisierten Form der Kriegspropaganda, wie sie in der EU gerade gepflegt wird: “Da, Tote! Wie furchtbar! Ein Verbrechen!”
Wobei sich von der Leyen im Grunde immer noch an dieses Schema hielt und auf den Satz mit den Verlusten sogleich hinterherschiebt, Russland müsse für seine schrecklichen Verbrechen zahlen. Das Töten gegnerischer Soldaten bei militärischen Handlungen ist allerdings im Recht aller Staaten kein Verbrechen, und der Krieg hat bereits 2014 begonnen, durch die Ukraine…
Die gesamte Darstellung ist darauf ausgerichtet, als sei es nicht das Wesen eines Krieges, dass Soldaten von A Soldaten von B ums Leben bringen und umgekehrt; als hätten Einrichtungen wie die Bundeswehr die Aufgabe, gelegentlich schwere, unnütze technische Gerätschaften durch die Landschaft zu fahren und ansonsten Bettenmachen und Stiefelputzen zu üben und lustige Kostüme anzuziehen; als wäre nicht der Grund für die Bestrebungen, Kriege zu vermeiden, dass es einen “unschuldigen” Krieg ohne Tote, Elend und Leid schlicht nicht gibt. Das Wissen um diese Tatsache würde es aber deutlich erschweren, ständig von russischen Verbrechen zu reden, ohne genaue Belege vorzulegen, warum eine konkrete Handlung ein Verbrechen gewesen sein soll.
Man kann daran sehen, wie die Konsequenzen aus all den Problemen gezogen wurden, die man mit der Kommunikation früherer Kriege so hatte. Nach dem Vietnamkrieg verschwand die Möglichkeit wirklicher Berichterstattung aus Frontnähe (auf russischer Seite kann man sie noch finden), und es gab nur noch die vom Generalstab zugeteilten, öffentlichkeitswirksamen Häppchen. Während des Irakkriegs gab es aber zumindest noch ein gewisses Maß an technischer Information.
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Die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine begann damit, acht Jahre lang zu schweigen, und im Grunde wird das Schweigen über die eigentlichen Vorgänge weiter fortgesetzt, um von gelegentlichen hysterischen Gräuelgeschichten durchbrochen zu werden. Eigentlich müssten nach neun Monaten ordentlicher Berichterstattung aufmerksame Leser deutscher Medien die wichtigsten Teile der Genfer Konventionen im Schlaf beherrschen; aber es ist nie die Rede davon. Es soll massenhaft russische Kriegsgefangene geben, aber es gibt keine Berichte darüber. Es werden Waffen gefordert und auch geliefert, aber wo sie gegen wen eingesetzt werden, ist kein Thema. Auch wenn in Donezk etwa genau festgestellt wurde, als das erste Mal NATO-Munition mit Kaliber 155 auf die Bewohner der Stadt abgefeuert wurde, und nicht mehr das sowjetische Kaliber 152.
Konkrete Kenntnisse sind viel zu gefährlich. Gerade dieser Punkt mit den unterschiedlichen Kalibern; diese drei Millimeter Unterschied, die doch in jedem Bruchstück eines Geschosses noch erhalten bleiben. Jeder, der diesen technischen Umstand kennt, weiß, dass die Aussagen der IAEA, sie könne nicht feststellen, wer da schießt, schlicht gelogen sind, denn man muss nur nachmessen. Es gibt so viele Momente, in denen es nützlich ist, kein konkretes Bild des Krieges entstehen zu lassen; nicht zuletzt, weil dann auch eventuelles Mitgefühl mit den ukrainischen Soldaten nicht im Weg steht, den Krieg weiter in die Länge zu ziehen.
Warum also durchbricht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diesen Nebel und nennt eine Zahl? Warum diese? Und war das wirklich ein Versehen, oder war das nicht vielleicht genau so geplant? Weil man auf diese Weise ein wenig an solche Zahlen gewöhnen kann, ohne gleich zu ihnen stehen, geschweige denn irgendwelche Verantwortung dafür zugestehen zu müssen?
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Die Ukraine veröffentlicht keine Zahlen und wird dies auch nicht tun, das hat der Pressesprecher des Generalstabs deutlich zu erkennen gegeben. Allerdings gab es immer mal wieder Aussagen in einzelnen Interviews, die Verluste in einer Höhe von bis zu mehreren hundert Mann täglich eingestanden, und einzelne Phasen lagen sicherlich noch darüber. Wenn wir einmal annähmen, die durch von der Leyen ausgeplauderte Zahl 100.000 sei zutreffend, ergäbe das pro Tag 357 getötete ukrainische Soldaten. Das ist eine Größenordnung, die man jedenfalls nicht auf den ersten Blick für unwahrscheinlich erklären kann.
Das russische Verteidigungsministerium hatte vor einiger Zeit von etwas über 60.000 gefallenen Ukrainern berichtet. Nachdem der Einsatz von Drohnen an dieser Front zum Alltag gehört, kann man sich sogar vorstellen, dass diese Verluste tatsächlich gezählt sind. Es könnte sein, dass diese Zahl die untere Grenze darstellt.
Von der Leyen spricht von einer Schätzung. Eine Schätzung hat mit Sicherheit keine ukrainischen Quellen. Aber die NATO dürfte ziemlich genau wissen, wie die Verluste aussehen, weil Truppen nicht an einem Punkt verbleiben, sondern bewegt werden, und sich bei diesen Bewegungen Veränderungen durchaus feststellen lassen. Und in der Mehrzahl der Fälle ist, wenn zum Beispiel ein Panzer zerstört wird, nicht nur der Panzer kaputt. Es gibt statistische Korrelationen zwischen Verlusten an Gerät und Verlusten an Personal, und die Verluste an Gerät, die die ukrainische Armee erlitten hat, sind beträchtlich, sonst bräuchte sie den ganzen NATO-Krempel nicht.
Es ist diese eine sprachliche Unschärfe, die Formulierung “military officers”, die ausgesprochen stutzig macht. Denn einmal abgesehen von der Tatsache, dass eine Armee, die überhaupt hunderttausend Offiziere verlieren könnte, doch etwas größer sein müsste als die ukrainische, eröffnet eine sichtlich falsche Angabe natürlich die Option, diese Aussage in beliebiger Tiefe wieder zurückzuziehen oder aber nach oben zu erweitern. Die reale Wirkung des ganzen Vorgangs ist, dass die Zahl 100.000 erst einmal gesetzt ist und das Publikum sich daran gewöhnen kann, dass wir uns inzwischen im sechsstelligen Raum bewegen, und bei Bedarf kann man auf diese Vorlage zurückgreifen und weiter darauf aufbauen.
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Denn es gibt andere Schätzungen, die weit höher liegen. Scott Ritter schätzt die ukrainischen Verluste schon länger auf über 200.000, und zwischen ihm und dem russischen Verteidigungsministerium gibt es noch weitere Varianten. Aber das, was seitens der EU-Kommission nach dem Rückzug des Videos lanciert wurde, dass Hunderttausend die Verwundeten wie die Toten umfasse, ist eher unwahrscheinlich, denn selbst bei einem Minimalverhältnis von drei Verwundeten auf einen Toten ergäbe das gerade einmal 25.000 Tote. Das passt weder zur Menge zerstörten Geräts noch zu der Tatsache, dass inzwischen größere Gruppen von Söldnern aufgetaucht sind.
Aber das Dementi ist eben nur Teil eines Gesamtpakets, dessen zentrales Element es war, die Hunderttausend erst einmal ins Gespräch zu bringen. Könnte sein, dass das der Einstieg in einen Versuch ist, sich doch irgendwie aus dem ukrainischen Krieg herauszuziehen, ehe die gesamte EU dauerhaft ruiniert ist. Könnte aber auch sein, dass dieselbe Zahl letztlich dafür genutzt wird, sich noch tiefer in das ukrainische Desaster zu verstricken. Aber ein Versehen? Nein, ein Versehen war diese Aussage sicher nicht.
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