Italiens Ex-Premier: “Franzosen schossen Passagierflug ab – weil sie Gaddafi töten wollten”
Das Regime von Muammar al-Gaddafi machte es sich zur Aufgabe, die Libyer an ihre stolze Geschichte im Kampf gegen die Kolonialmächte zu erinnern, die in ihr Land einmarschierten – insbesondere an die italienische Kolonisierung. Dabei wurden zwischen 1911 und 1943 fast eine halbe Million Libyer getötet, darunter auch der Anführer des Widerstands, Omar Mukhtar, der 1931 gefangen genommen und gehängt wurde.
Nach Jahren des Drucks und der Verhandlungen ist es Libyen schließlich gelungen, was keinem anderen Land zuvor gelungen ist: Italien zu zwingen, sich für seine koloniale Brutalität zu entschuldigen und Reparationszahlungen zu leisten. Im Jahr 2008 unterzeichneten Tripolis und Rom den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft, um ihre Probleme aus der Kolonialzeit beizulegen und gleichzeitig der Welt ein antikoloniales Beispiel zu geben. Im Rahmen des Vertrags verpflichtete sich Rom, Tripolis über einen Zeitraum von 25 Jahren eine halbe Milliarde Dollar in Form von Entwicklungshilfe zu überweisen, darunter für den Straßenbau, den Bau von Krankenhäusern, den Ausbau des Eisenbahnnetzes und für Bildungsstipendien für libysche Studenten. Auch eine Rückgabe gestohlener Artefakte wurde vereinbart.
Das nicht mehr so stolze neue Libyen
Das neue Libyen ist nicht daran interessiert, sich an “seine ferne oder jüngere Geschichte” zu erinnern, geschweige denn, diese zu feiern, sagte ein in Tripolis lebender Historiker, der anonym bleiben wollte. Er fügte hinzu, dass Geschichte “ein integraler Bestandteil einer nationalen Identität” sei, die im Laufe der Zeit durch die Bildung der Jungen und den Erinnerungen der Alten über die Vergangenheit ihres Landes aufgebaut werde. Sein Kollege, der aus Angst vor Repressalien ebenfalls anonym bleiben wollte, stimmt dem zu und ergänzt, dass “eines der großen Vermächtnisse der Ära von Muammar al-Gaddafi darin bestand, die Libyer stolz auf sich selbst zu machen, indem vergangene nationale Ereignisse gewürdigt wurden”. Seit Oktober 2011 wurde im Land kein einziges nationales Gedenken mehr begangen. Schlimmer noch: Libyens Politik, einschließlich in Wahlfragen und Wirtschaftsangelegenheiten, wird von ausländischen Staaten oder über deren lokale Stellvertreter verwaltet.
Libyen ist heute die Heimat von mehr als 20.000 ausländischen Truppen, Söldnern und bewaffneten Gruppen, die verschiedene lokale Fraktionen unterstützen und um Macht und Einfluss kämpfen. Für viele Libyer sei das “unhaltbar”, sagte Ali Mahmoud von der Universität Tripolis. Mahmoud fragte sich: “Wie konnte Libyen Jahrzehnte nach dem Rauswurf fremder Mächte erneut Gastgeber ausländischer Truppen werden?” Die Mehrheit der Libyer ist unzufrieden mit der Präsenz ausländischer Truppen auf deren libyschen Stützpunkten in Misrata, Bengasi, al-Watya, südwestlich von Tripolis und an anderen Orten. Sie betrachten dies als eine Form der Besatzung.
Das Gefühl einer heimlichen Besatzung
In den Augen der einfachen Libyer steht ihr Land tatsächlich unter indirekter Besatzung, sowohl “militärisch als auch politisch”, sagte Samia al-Hussain – was nicht ihr Klarname ist –, eine in Bengasi tätige Anwältin. Die für 2021 geplanten Wahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben, weil die US-amerikanische und britische Botschaft keine Präsidentschaftswahlen mit Saif al-Islam al-Gaddafi, dem Sohn von Muammar al-Gaddafi, als Spitzenkandidaten zulassen wollen.
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Der jüngere Gaddafi genießt immer noch breite Unterstützung im ganzen Land und wurde 2021 von den Gerichten für eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen zugelassen, nachdem er zunächst von ihnen verbannt worden war. Hätten wie geplant im Dezember 2021 Wahlen stattgefunden, wäre er der unausweichliche Sieger gewesen. Um eine solche Möglichkeit zu verhindern, sprachen sich sowohl die ehemalige britische Botschafterin Caroline Hurndall als auch ihr Amtskollege aus den USA, Richard Norland, öffentlich gegen seine Kandidatur aus.
Angesichts der darauffolgenden öffentlichen Wut sah sich das Parlament – im Gegensatz zum Außenministerium – gezwungen, Hurndall speziell wegen ihrer Äußerungen zu den Präsidentschaftswahlen zur Persona non grata zu erklären. Ein weiteres Indiz für die heimliche Besatzung Libyens ist jedoch, dass Hurndall das Land bis zum Ende ihrer Dienstzeit im vergangenen Oktober nie verließ. Norland wurde vom libyschen Außenministerium nicht einmal gerügt, wie es bei anderen Ländern der Fall gewesen wäre. Warum? Weil er der Botschafter der USA ist.
Obwohl sie zum Lager gehörte, das gegen Gaddafi war, verwies Samia al-Hussain auf das kürzlich enthüllte geheime Treffen zwischen der mittlerweile flüchtigen ehemaligen Außenministerin Nadschla al-Mangusch und ihrem israelischen Amtskollegen im vergangenen August in Rom. Sie fragte sich: “Welchen libyschen Interessen würde eine solche Normalisierung dienen? Und warum sollte irgendein libyscher Staatsbeamter daran denken, einen Vertreter des zionistischen Staates zu treffen, wenn er nicht von außen dazu aufgefordert worden wäre?” al-Hussain fügte hinzu, dass Libyen “sehr stolz darauf ist”, die Palästinenser im Laufe ihrer Geschichte unterstützt zu haben. Hunderte Libyer meldeten sich freiwillig, um 1948 im ersten Palästina-Krieg zu kämpfen. Al-Hussain ist auch der Meinung, dass Libyens Reaktion auf den aktuellen Gaza-Krieg weniger heftig ausgefallen ist, als von einem Staat erwartet wurde, in dem Palästina als eine heilige Sache gilt. Die meisten Libyer sind der Meinung, dass ihr Land in Bezug auf Gaza mehr tun sollte, obwohl die Regierung bereits rund 50 Millionen Dollar an Hilfsgeldern für Gaza gespendet hat.
Musbah Adokali, ein Jurastudent in Bani Walid, einer der Hochburgen von Gaddafi, glaubt, dass die libyschen Staatsführer Befehle von außen erhalten und gegen den Willen des libyschen Volkes handeln. Er wies darauf hin, was mit dem libyschen Staatsbürger Abu Agila Mohammad Mas’ud geschehen ist, der vor 35 Jahren entführt und in die USA gebracht wurde, wo er wegen Beteiligung an der Bombardierung des Pan-AM-Flugs 103 angeklagt wurde. Der Student sagte: “Dies geschah auf Befehl der USA”, sonst wäre dies nicht passiert. “Wenn das keine Besatzung ist, weiß ich nicht, was es sonst ist”, resümierte Adokali.
Aus dem Englischen.
Mustafa Fetouri ist ein libyscher Akademiker und preisgekrönter Journalist und politischer Analyst.
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