© https://www.youtube.com/watch?v=pFDLDmZw-Ro / Youtube-Kanal PetrovFed Screenshot / Musikkorps der Bundeswehr auf dem Roten Platz, Moskau, 01.09.2012
Von Felicitas Rabe
In der Regierungsbefragung zur Panzerlieferung an die Ukraine, zum Verhältnis mit dem Bündnispartner USA und zu den Wiederaufbauplänen für die Ukraine stellte Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwoch fest, dass es zwischen dem Verteidigungsministerium und der Bundeswehr Abstimmungsfehler gegeben habe. Die gelte es nun abzustellen. Auf die Art der Fehler geht er nicht näher ein. Die Position der deutschen Bundeswehr zum Krieg in der Ukraine ist für sachunkundige Bürger schwer auszumachen. Gibt es dort überhaupt eine von der Politik unabhängige Meinung?
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Auffällig ist es schon, dass einzelne Stimmen hochrangiger Soldaten in letzter Zeit mit ihren Aussagen offenbar öfter für Irritationen sorgen. Wie zuletzt der Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn, der sich in einem Focus -Interview im September 2022 gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aussprach und die Stärke der ukrainischen Armee anzweifelte. Seine Äußerungen hätten international für Kopfschütteln gesorgt, schrieb t-online schon einen Tag später, am 15. September.
Der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations hat Spiegel Online zufolge nach dem Zorn-Interview verlautbart: “Das Vertrauen in Deutschland ist ohnehin nicht sehr groß, um es vorsichtig auszudrücken. Ich verstehe nicht, warum die Deutschen es noch schlimmer machen.” Der britische Kriegsforscher Rob Lee bezeichnete die Aussagen des deutschen Generaloberst auf Twitter als “wirklich bizarr” und als politisch nicht logisch.
Bereits im Oktober 2022 kritisierte der ehemalige Generalinspekteur Harald Kujat im Stern -Interviewbeitrag “Ex-General Harald Kujat warnt NATO vor Lieferung von Offensivwaffen” Waffenlieferungen von NATO-Mitgliedsländern an die Ukraine. Auf die Frage nach einem Ausweg aus der Eskalation erklärte der General a. D.: “Nicht auf Gewalt zu setzen, indem man immer leistungsfähigere Waffen liefert und immer vernichtendere Waffensysteme.” Ein Ausweg aus diesem Krieg könne nur durch Politik und Diplomatie gefunden werden.
Und mitten in der aufgeheizten Debatte um die Lieferung von deutschen Kampfpanzern an die Ukraine warnte der ehemalige Brigadegeneral Erich Vad noch am letzten Sonntag in einer Talkshow des Bayerischen Rundfunks vor der weiteren Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine. Der ehemalige militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel rügte insbesondere die “politische Scharfmacherei” der Grünen und der FDP.
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Auch insgesamt scheint die Stimmung bei der deutschen Bundeswehr in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine eher wenig motiviert. Neben der immer wieder auffallenden schlechten Materialpflege sei laut dem taz -Artikel “Mehr Soldaten verweigern den Dienst” von Anfang Januar die Zahl der Kriegsdienstverweigerer mit Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine im Jahr 2022 um das Fünffache gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Ein Sprecher des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben habe gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND ) mitgeteilt:
“Im Jahr 2021 sind im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben 201 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung eingegangen, im Jahr 2022 waren es insgesamt 951 Anträge.”
Der frühere Oberstleutnant Jürgen Rose engagiert sich sogar sehr aktiv gegen die Rolle der NATO in der Ukraine und trägt seine Position in Vorträgen und Diskussionsrunden vor. 2007 hat er anlässlich des Militäreinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan einen weiteren Wehrdienst verweigert.
Der letzte Auftritt des Bundeswehr-Musikkorps auf dem Roten Platz in Moskau
Man könnte deshalb den Eindruck gewinnen, zumindest Teile des deutschen Militärs seien viel ambivalenter bezüglich der Rolle Deutschlands und der Unterstützung der Ukraine als die deutsche Politik. In Bezug auf die Position des deutschen Heeres zu Russland bleibt der Autorin ein Auftritt des Musikkorps der Bundeswehr vor zehn Jahren beim Moskauer Militärmusikfest “Spasskaya Tower 2012” in besonderer Erinnerung. Seit 2007 trat das deutsche Musikkorps bei diesem jährlichen Militär-Musikfestival in Russland auf, wie zu Anfang auch der WDR berichtete.
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Der letzte Auftritt des Bundeswehrmusikkorps auf dem Roten Platz im Jahr 2012 war allerdings von ganz besonderer Musikauswahl geprägt. Als wenn die deutschen Militärs mit den Liedern in den wenigen Auftrittsminuten eine Botschaft an Russland vermitteln wollten. Weil die Auftrittszeit nicht ausreichte, wurden teilweise nur Auszüge aus den Liedern gespielt. Sollte mit der Auswahl der Stücke tatsächlich eine bestimmte Botschaft überbracht werden, würden Militärs und Diplomaten, die sich seit Jahrhunderten auch mittels Symbolen verständigen, das mit Sicherheit verstehen. Man denke nur an die aufwendigen Fahnen und Standarten mit ihren Formen und Farben oder die verschiedenen Abzeichen in Uniformen. Militärfachleute können daraus Zugehörigkeiten und Absichten lesen, die dem unkundigen Laien verborgen bleiben. Neuerdings tragen sogar die Klimaaktivisten vermehrt zum Teil auffällig gestaltete Flaggen mit aufs Feld, das nur am Rande.
In das Programm typischer Militärmärsche waren drei Lieder eingebunden, die die Autorin zu ihrer Interpretation einer “Botschaft an Russland” animierten. Beim ersten in das Marschmusik-Potpourri eingebettete Lied handelte es sich um eine Kurzfassung des Stückes “Ich bete an die Macht der Liebe”.
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Die Melodie wurde Wikipedia zufolge im Jahr 1822 vom russischen Komponisten Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski zu einem Gedicht des russischen Dichters Michail Matwejewitsch Cheraskow für den Hof des Zaren Alexander I. komponiert. In der Zeit seiner Stellung von 1820 bis 1824 in der Malteserkirche in St. Petersburg kombinierte der deutsche Pfarrer Johannes Evangelista Goßner die russische Melodie dann für das Choralbuch seines russischen Organisten Iwan Karlowitsch Tscherlizki auch mit einem deutschen Gedicht. Es stammte vom protestantischen Prediger Gerhard Tersteegen, der es bereits 1750 verfasst hatte.
Nach seinem Aufenthalt in Russland brachte der deutsche Pfarrer das Lied an den Hof des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Friedrich Wilhelm hatte bereits 1813 vom russischen Militär die Tradition eines Gebets nach dem Zapfenstreich übernommen – “Helm ab zum Gebet” –, heißt es seither beim deutschen Militär. Anlässlich seines Besuches am 12. Mai 1838 wurde in Gegenwart des russischen Zaren beim deutschen Militär das Lied “Ich bete an die Macht der Liebe” als Zapfenstreichgebetslied mit russischer Melodie erstmals eingeführt. Das Bundeswehrorchester spielte 2012 dieses Lied mit einer über Jahrhunderte dauernden russisch-deutschen Geschichte zum Einmarsch auf den Roten Platz.
Im Musikstück “Also sprach Zarasthustra” geht es um die Verstrickung des Menschen in das “Böse”
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Auch das zweite in die Marschmusik eingebettete Stück lässt einen aufhorchen: “Also sprach Zarathustra” von Richard Strauss. Das Thema behandelt die Verstrickung in das “Böse”. Die Lehre des persischen Philosophen Zarathustra befasst sich mit dem Ringen des Guten gegen das Böse. Jeder Mensch habe die freie Wahl, sich für das Gute zu entscheiden, damit das Gute über das Böse siegen könne. Wäre hier zu viel hineininterpretiert, wenn man annähme, mit dieser Musikauswahl sollte die deutsche Schuld gegenüber Russland und die Verstrickung in das “Böse” ausgedrückt werden? Dass hier, mit der Botschaft der Musik, ganz ohne Worte deutlich gemacht wurde, wie tief die Verstrickung Deutschlands war oder vielleicht immer noch ist?
Interessant ist vielleicht auch, dass der weltbekannte Filmemacher Stanley Kubrick 2001 die einleitenden Takte der Zarathustra-Musik als Motiv für seinen Film “Odyssee im Weltraum” verwendete. (Böse Zungen behaupten, Kubrick wolle mit diesem Werk verschlüsselt seine Schuld für einen zuvor gefakten Mondlandungsfilm zugeben.)
Das Thema des Heiderösleins: Bewahrung des Leidens im Gedächnis
Schließlich führt das Bundeswehrorchester am Ende des Auftritts (ab Min. 5.19) noch ein unter die Haut gehendes Arrangement des Heideröslein-Lieds auf. Ein solches Berührungspotenzial hätte man von einem Militärorchester kaum erwartet. Die Dichtung “Sah ein Knab’ ein Röslein stehn” wurde um 1770 von Johann Wolfgang von Goethe verfasst. Angeblich, so wird häufig interpretiert, habe Goethe damit eine Vergewaltigung thematisieren wollen. Doch Goethe wolle mit der Metapher der gebrochenen Rose etwas ganz anderes vermitteln, so die Interpretation der Mannheimer Goethe-Gesellschaft.
Screenshot / Musikkorps der Bundeswehr auf dem Roten Platz in Moskau, 1.09.2012 https://www.youtube.com/watch?v=pFDLDmZw-Ro / Youtube-Kanal PetrovFed
“Geradezu mit pochender Wirkung” werde im Refrain das Heidenröslein wiederholt. Denn in dem Gedicht gehe es um die “Bewahrung dieses Leidens im Gedächtnis”. So mahne das Röslein “Dass Du ewig denkst an mich”. Zudem vermittele das Gedicht Empathie und Verständnis für ein Opfer, das sich wehrt – “Röslein wehrte sich und stach”.
Die fast mystisch erscheinende musikalische Interpretation des Musikkorps auf dem Roten Platz wirkte auf die Autorin wie eine einzige tiefgehende Entschuldigung des deutschen Militärs an Russland – als wollte es sagen:
“Das deutsche Militär darf und wird nie und niemals vergessen, welches Leid wir Euch Russen angetan haben.”
Es war das letzte Mal, dass das deutsche Militärorchester an diesem Festival teilgenommen hat. Konnte man diesen Auftritt in den Folgejahren noch ohne großen Aufwand – in gekürzter Form – auf YouTube-Kanälen deutscher Medien finden, ist dort mittlerweile nur noch eine russische Aufnahme abrufbar.
Auch der damalige Leiter des Musikkorps, Oberstleutnant Walter Ratzek, beendete diese Aufgabe noch im selben Jahr. In einem Interview, das er nach seiner Zeit beim Militär gab, sagte er einmal:
“Das eigentliche der Musik steht aber zwischen den Zeilen.”
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