“Für immer bei der Menschheit” – Kommunisten in Russland begehen 100. Todestag von Lenin
Die kleine Karibikinsel Haiti wird noch heute für den erfolgreichen Sklavenaufstand abgestraft, der vor über zweihundert Jahren stattfand; hätte er deshalb nicht stattfinden sollen? Die Schweiz verjagte die Habsburger und bewegte sich danach jahrhundertelang auf Zehenspitzen durch die Geschichte, um ja die Aufmerksamkeit der ehemaligen Herren nicht auf sich zu lenken, weshalb sie den deutschen Bauernaufstand 1525 nicht unterstützte, was letztlich die Idee der Schweizer Neutralität gebar; und das fürchterliche deutsche Leid im Dreißigjährigen Krieg endete mit dem Westfälischen Frieden, der seinerseits – durch die einmalige Art der konfessionellen Konkurrenz – dafür sorgte, dass das deutsche Geistesleben sich vor allem durch genaue Begriffe auszeichnete, was dann in den Naturwissenschaften Jahrhunderte später zum Vorteil wurde. Nichts ist frei von Widersprüchen.
Aber neben dem Problem, zu dem diese Zuordnung russischer Gebiete nach 1992 wurde, schuf diese Nationalitätenpolitik noch etwas ganz anderes: ein Modell für den Umgang der Völker miteinander, sprich, die Vorlage auch für die Außenpolitik und insbesondere, die Vorlage für den Umgang mit all jenen Völkern, die damals noch unter kolonialer Herrschaft standen. Ein Ende dieser kolonialen Herrschaft war Teil des sowjetischen Programms, eine Konsequenz aus Lenins Analyse des Imperialismus und seinem Geschick, Bündnispartner zu finden. Ho Chi Minh, der 1920 die Kommunistische Partei Frankreichs mitgegründet hatte, war im Januar 1924 als Student in Moskau.
Es bedarf heute einiger Anstrengung, um zu begreifen, wie enorm der Schritt war, den die Sowjetunion damals gegangen war; schließlich wird selbst in den Kernstaaten des Westens heute die meiste Zeit über zumindest so getan, als hielte man die Bewohner des globalen Südens für gleichwertig, auch wenn die eigentliche Gesinnung derzeit immer wieder hervorbricht. Damals, zu Beginn der 1920er, wurde völlig unverhüllt geäußert, dass man sich selbst für das Licht der Welt und die Menschen in den Kolonien für eine Art Nutzvieh hielt.
Und dann gibt es diesen alten sowjetischen Film, Zirkus. Ja, er ist von 1936, entstand also zwölf Jahre nach Lenins Tod, aber man muss ihn nur sehen, um zu erkennen, dass diese Jahre nicht entscheidend sind. Entscheidend ist etwas ganz anderes: Noch dreißig Jahre später wäre im Süden der Vereinigten Staaten jedes Kino niedergebrannt worden, das ihn gezeigt hätte. Die Hauptfigur ist nämlich eine weiße amerikanische Zirkusartistin mit einem unehelichen schwarzen Kind auf einer Tournee in der Sowjetunion, die von ihrem Zirkusdirektor damit erpresst wird, er werde ihre “Schande” bekanntmachen.
Das ist ein Unterhaltungsfilm, ganz im damals populären Stil einer halben Revue mit Gesang und Tanz, wie bei Fred Astaire und Ginger Rogers. Ein Film, für den die Zuschauer ganz normal Eintritt bezahlten, ohne großen künstlerischen oder gar politischen Anspruch. Aber genau dieses Detail besagt etwas: Dass die Zuschauer sich nicht irritiert fühlten, als am Ende des Films das Zirkuspublikum erklärt, ihm wären alle Kinder lieb, ob schwarz, weiß oder blau. Zu dieser Zeit beschäftigten sich die Länder des Westens – beileibe nicht nur Nazideutschland – mit Rassenlehre und Eugenik. In der Sowjetunion wurde das Musikstück, mit dem der Film endet, so populär, dass der Anfang der Melodie jahrzehntelang die Erkennungsmelodie von Radio Moskau war.
Meinung Mythos des Westens: Auf immer verloren
An der Welle der Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion nicht nur durch ihren Sieg über Nazideutschland einen Anteil, sondern mindestens ebenso sehr durch die Unterstützung und Ausbildung, die sie Unabhängigkeitskämpfern aus diesen Ländern zukommen ließ. Das Verhältnis zwischen Indien und Russland heute fußt auf der Hilfe beim Aufbau der Industrie, die die Sowjetunion dem jungen indischen Staat nach der Unabhängigkeit leistete. Und all das beruhte auf Lenins Einschätzung, die unterdrückten Völker in den Kolonien seien die natürlichen Bündnispartner der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern, und deren Kampf um die Befreiung aus kolonialer Unterdrückung trage entscheidend dazu bei, auch die Arbeiter der Kernländer zu befreien.
Das heutige China würde ohne Lenin nicht existieren. Das heutige Indien wäre nicht industrialisiert. Lenin ist auch eine Gestalt der russischen Geschichte, aber nicht nur. Dieser neue Staat, der damals unter seiner Führung geschaffen wurde, legte die Grundlagen auch für jene Möglichkeit der Befreiung, die heute durch BRICS geboten wird. Die siebzig Jahre der Sowjetunion sind nur ein Bruchteil seines Erbes. Der größere Teil wird jetzt erst sichtbar, selbst wenn er nicht so bezeichnet wird.
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