Putin billigt neues Außenpolitik-Konzept: “Überbleibsel der US-Dominanz in der Welt entfernen”
Die zweite Alternative würde von Russland weiträumige Offensivoperationen verlangen, bei denen es zu beträchtlichen personellen Opfern und massiver Vernichtung von Kriegsgerät käme. Nach einer ukrainischen Kapitulation bestünde die Möglichkeit, Kiew unter Druck zu setzen und vielleicht sogar direkten Einfluss auf dessen Politik zu nehmen, etwa nach Bildung einer breiten Einheitsregierung unter Beteiligung prorussischer Kräfte. Gleichzeitig müsste Moskau jedoch mit Guerillaaktivitäten rechnen, die in einem Flächenstaat wie der Ukraine kaum zu unterbinden sind. Von ihren Hochburgen im Westteil des Landes aus könnten Rebelleneinheiten sogar in russisches Territorium eindringen. Dabei würden sie vom Westen großzügig mit Waffen unterstützt werden.
In beiden militärischen Konzeptionen würde die Konfrontation mit dem Westen weiterbestehen. Der Informationskrieg würde nicht abebben, und eine Rücknahme der Sanktionen wäre weiterhin ausgeschlossen. Auch wenn sich die russische Volkswirtschaft großenteils robust zeigt, gibt es einige Rückschläge, die sich in Zukunft ausweiten könnten. Das Korea-Modell der RAND Corporation, in dem ein Abbau der Sanktionen in Aussicht gestellt wird, wäre demnach als Alternative zu bevorzugen. Da es ein Einfrieren des Konflikts beinhaltet, würde sich die Lage an der Front beruhigen. Schließlich würde mit der vorgesehenen Neutralisierung der Ukraine eine zentrale russische Forderung erfüllt werden.
Russlands Vorteile durch einen Friedensvertrag
Die koreanische Lösung hätte jedoch nicht nur gegenüber den militärischen Optionen Vorteile, sondern scheint ebenso den hier vorgestellten Vertragsentwurf in den Schatten zu stellen. Russland würde nämlich die Kontrolle über die vier Oblaste in der Süd- und Ostukraine behalten und bräuchte deren Übernahme in den russischen Staatsverband nicht revidieren.
Allerdings wäre der Kreml fortan auf den guten Willen des Westens angewiesen, was sich in der Vergangenheit mehrmals als fatal erwiesen hat. Bereits vor dem Beginn des Ukraine-Krieges wurde deutlich, dass die Washingtoner Führung und ihre europäischen Fürsprecher keinen Ausgleich mit Russland, sondern dessen nachhaltige Schwächung anstreben. Dieses Ziel würde zweifellos nach dem erzwungenen taktischen Rückzug weiter verfolgt werden.
Es könnte etwa die Neutralitätsverpflichtung der Ukraine ausgehöhlt werden, wie es derzeit mit der kreativen Auslegung des Rotationsprinzips durch die NATO im Baltikum geschieht. Überhaupt wäre das Land weiter im westlichen System eingebunden und könnte somit als Speerspitze gegen Russland eingesetzt werden. Weder Grenzprovokationen noch Anschläge durch Rebellengruppen wären dabei auszuschließen. Vor dem Hintergrund des ungelösten Territorialkonflikts ließe sich zudem ein Vorwand konstruieren, bereits aufgehobene Wirtschaftssanktionen erneut in Kraft zu setzen. Bei der Verhängung antirussischer Maßnahmen dürfte sich der Westen dadurch ermuntert fühlen, dass Moskaus Interpretation der Rechtslage, die Angliederung der vier ukrainischen Oblaste betreffend, keine internationale Unterstützung erhält.
Gegenüber einem bloßen Waffenstillstand hätte ein Friedensvertrag den Vorteil, dass es keine Konfliktpunkte mehr zwischen Russland und der Ukraine gäbe. Den Kreml dürfte beruhigen, dass die ukrainische Führung keinen Grund hätte, sich von Washington instrumentalisieren zu lassen. Die Lage könnte sich indes anspannen, wenn der Zeitpunkt der Referenden näher rückt. Sowohl Moskau als auch Kiew würden alles daran setzen, die Gunst der Bevölkerung in den UN-kontrollierten Gebieten zu erlangen. Dies könnte auch positive Folgen haben, denn ein Wettstreit würde dem Wiederaufbau im Donbass zum Vorteil gereichen. Ebenso dürfte sich die Ukraine veranlasst sehen, die Rechte der russischen Minderheit zu respektieren.
Die Krim würde angesichts des zu erwartenden Votums bei Russland verbleiben. Mit der Zustimmung der Ukraine zum Friedensvertrag wäre die Voraussetzung gegeben, dass deren Status international anerkannt würde. Nicht nur die Vorwürfe der Völkerrechtsverletzung und die Diskriminierung der Bewohner der Halbinsel wären Vergangenheit, sondern es würde auch der letzte Grund entfallen, westliche Sanktionen weiter aufrecht zu erhalten.
Sofern die Abstimmungen in den vier ukrainischen Oblasten vom September 2022 mit Ergebnissen zwischen 87 Prozent in Cherson und 98 Prozent in Lugansk repräsentativ waren, wäre nach fünf Jahren mit einer Entscheidung zugunsten Russlands zu rechnen. Die Enttäuschung wegen der unterbrochenen Integration in das russische Staatssystem würde durch das Ende der militärischen Bedrohung und den gesicherten künftigen Status mehr als aufgewogen werden. Sollte es Kiew in der Zwischenzeit gelingen, die innerstaatliche Versöhnung durch eine Zurückdrängung ultranationalistischen Gedankenguts voranzutreiben, wäre nicht einmal die Rückkehr einiger Gebiete zur Ukraine ausgeschlossen. In diesem Fall könnte sich die russische Führung damit trösten, dass zumindest das Ziel der “Entnazifizierung” erreicht wurde.
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