Baerbock in Jerusalem: “Israel führt einen Kampf gegen die Hamas, nicht gegen die Zivilbevölkerung”
Damals wirkte das Aufeinandertreffen dieser zwei Wirklichkeiten wie ein Kampf zwischen den Generationen, auch wenn es das nicht war. Aber auch heute könnte es wieder diese Gestalt annehmen, gerade weil die heutigen Vertreter in Regierung und Medien eher noch eins drauflegen, jede abweichende Sicht noch gründlicher abzuschotten versuchen, und damit die Konfrontation verschärfen. Was die langfristige Wirkung verstärkt, weil für diejenigen, die den Blick auf das wirkliche Leben geworfen haben, das andere desto mehr zur Lüge wird.
Damit wird nicht nur die aktuelle Erzählung fragil, auch die vergangene. Wer, der all die Aufnahmen aus Gaza gesehen hat, könnte noch Butscha glauben? Vor wenigen Monaten waren es wenige, die genug derartige Bilder gesehen haben, um auf den ersten Blick zu zweifeln. Aber jetzt? Wer die verzweifelten Eltern gesehen hat, die ihre toten Kinder im Arm halten, wer jede Phase des Abschieds und des Schmerzes verfolgt hat, an einem der tausenden Beispiele, der weiß, dass nie, niemals und nirgends nach mehreren Tagen der Ruhe unbedeckte Tote auf der Straße liegen. Schon gar nicht, wenn es die eigenen sind. Es sind Handlungen, die viele menschliche Kulturen miteinander teilen: den Toten die Augen zu schließen und sie zu bedecken, und wenn es nur der Kopf ist.
Ja, die Bilder aus dem Gazastreifen werden die Lügen erschweren. Aber sie tun auch etwas anderes, was die Menschheit braucht wie die Luft zum Atmen: Sie erwecken das echte Mitgefühl im Herzen der Finsternis wieder zum Leben. Das immer von Schrecken und Schmerz begleitet ist, wie in der Legende vom Buddha. Von Ent-Täuschung und Ohnmacht, die sich dann bei einigen in die Kraft verwandeln, die wirkliches politisches Handeln antreibt. Zu dem es neben der Erkenntnis der eigenen Lage eben auch dieses Mitgefühls bedarf, das die Grundlage ist, sich mit anderen zusammenzuschließen. Dieser Schmerz ist der Preis, der für die Wahrheit zu entrichten ist.
Die Selbstverbrennung des US-Piloten Aaron Bushnell vor der israelischen Botschaft in Washington zeigt, wie tief dieser Schmerz gehen kann. Und wie unverzichtbar es ist, ihm eine Richtung zu geben, einen Weg zu finden, der ihn in Handlung umsetzt. Aber so ist es auf den widersprüchlichen Pfaden der Geschichte – der gleiche Moment, der die unerträgliche Verzweiflung eines Einzelnen in die Erinnerung einbrennt, ist gleichzeitig ein Hoffnungszeichen, dass wieder eine junge Generation aus Menschlichkeit und Mitgefühl politisch heranwächst, nicht aus Karriereplanung und Opportunismus; eine Generation, die bereit ist, das wahre Gesicht des Wertewestens zu erkennen, und die den Kampf im Herzen der Finsternis wieder aufzunehmen vermag.
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Mit Sicherheit wird versucht werden, auch diese Bilder zu unterdrücken. Das Problem ist nur – die Schlimmsten stammen gar nicht aus palästinensischen, arabischen oder sonstigen nicht-westlichen Quellen, sondern aus israelischen. Es sind die israelischen Soldaten, die über gedemütigte Zivilisten jubeln, die Senatoren, die einfach alle töten wollen, die den letzten Flecken Schminke aus der Fratze wischen. Es gibt keine Abschottung vor einem Übel, das mitten aus der eigenen Gesellschaft entspringt. Gleich, wie gut man die Medien unter Kontrolle hat. Wie unabänderlich die Politiker die gleichen Phrasen wiederholen.
Eines der bekanntesten Bilder aus der Zeit des Vietnamkriegs ist die Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönchs in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon. Das geschah lange vor den großen Protesten im Westen, schon im Jahr 1963, aber jeder, der später auf die Straße ging, wusste davon. Die französischen Kolonialherren waren Katholiken, ihre amerikanischen Nachfolger ebenfalls Christen, natürlich wurde das zum antikolonialen Symbol (woran eine Debatte, ob das so gemeint gewesen sei, wie sie in westlichen Medien gern geführt wird, nichts ändert; ob und wie ein Symbol wirkt, liegt beim Empfänger, nicht beim Sender). Was wir heute erleben, ist wie eine musikalische Variation über Vietnam.
Wenn sich bei jenen, die jetzt diese Bilder sehen, Schmerz und Ohnmacht in Zorn umsetzen, dann steht ihnen noch die zweite Lektion bevor, die Brecht so zusammengefasst hat: “Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.” Es ist nicht leicht, aber unverzichtbar, die eigene Menschlichkeit zu bewahren, gleich, welchem Schrecken man gegenübersteht.
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Die Menschen, die dadurch geformt werden, durch quälendes Mitgefühl und gezügelten Zorn, sind diejenigen, die die Welt braucht. Die auch der Westen brauchen wird, um in eine Welt der Gleichen eintreten zu können. Wenn jetzt in der EU darüber debattiert wird, die Mauer noch etwas höher zu ziehen, die von der Welt da draußen abschottet, ist das vergebene Liebesmüh, die entscheidende Bresche ist schon längst geschlagen, und es war die eigene Arroganz, die es getan hat, denn keines dieser Bilder wäre je entstanden, wenn nicht die Kernländer des Westens, voran die USA, überzeugt gewesen wären, es mache nichts, wenn Israel mal eben einige zehntausend Palästinenser auslöscht.
Es mag ein wenig dauern, aber ab jetzt wird eine dieser Lügen nach der anderen fallen; nicht notwendigerweise für alle, die sich auf den Weg gemacht haben, aber für genug, um dem Pendel Schwung in die andere Richtung zu geben. Vielleicht sogar genug, um die ganze Astroturfing-Landschaft hinwegzufegen. Genug, um auch jene politischen Traditionen wiederzubeleben, deren Auslöschung nach dem Ende der DDR mit so viel Aufwand betrieben wurde.
Es gibt ein schönes Zitat von Jean Jaurès, dem 1914 ermordeten französischen Sozialisten, das in abgewandelter Form sehr bekannt ist:
“Wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: Wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt.”
Diese unter Schmerzen geborene Menschlichkeit ist die Fackel, die benötigt wird, um die Menschheit aus dem Dunkel zu führen. Vielleicht wurde sie jetzt weitergereicht.
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