Meinung Der Westen geht zu offenem Terror gegen Russland über
Was Macron selbst anbelangt, so tendiert sein Stil durch und durch zu cleverer, kontraproduktiver Gerissenheit. Wir können nicht genau vorhersagen, was Macron vorhat, und er weiß es vielleicht selbst auch nicht. Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist der französische Präsident jetzt zu einem hartnäckigen Eskalationsbefürworter geworden, der den Krieg in der Ukraine zu einem offenen Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO ausweiten will, oder er ist ein Glücksspieler, der ein hohes Risiko eingeht, der blufft, um drei Ziele zu erreichen: Moskau einzuschüchtern und davon abzuhalten, seinen militärischen Vorteil in der Ukraine auszunutzen – was ein hoffnungsloses Vorhaben wäre; vor der Europawahl im Inland zu punkten, was bereits fehlgeschlagen ist und seine Relevanz innerhalb der EU und der NATO zu erhöhen, indem er sich einfach als “neuer Churchill” ausgibt. Und einige seiner Fans, darunter Selenskij, ein ergrauter Veteran des Churchill-Rollenspiels, haben diesen unabdingbaren, wenn auch abgestandenen Vergleich bereits gezogen.
Auch wenn wir die dunkle Sphinx im Élysée-Palast oder, was das betrifft, die undurchsichtigen Machenschaften der Eliten der EU und der NATO nicht vollständig entschlüsseln können, können wir zwei Dinge sagen. Erstens: Was auch immer Macron zu tun gedenkt, es ist äußerst gefährlich. Russland würde Truppen der EU und der NATO in der Ukraine als legitime militärische Ziele behandeln – und es wäre völlig egal, ob sie unter der Flagge der NATO oder der ihrer jeweiligen nationalen Flaggen aufkreuzen. Russland hat außerdem bekräftigt, dass es der Ansicht ist, dass seine vitalen Interessen durch die Ukraine gefährdet sind und Atomwaffen eine Option sind, sollte Moskau eine ernsthafte Bedrohung für Russland erkennen. Diese Warnung könnte nicht deutlicher sein.
Zweitens liegt aufgrund des unbestreitbaren Sieges Russlands in der Ukraine ein Kernproblem des Westens, das jetzt akut wird: Die westlichen Eliten sind gespalten zwischen “Pragmatikern” und “Extremisten”. Die Pragmatiker sind ebenso russophob und strategisch fehlgeleitet wie die Extremisten, aber sie scheuen den Dritten Weltkrieg. Doch diese Pragmatiker, die den hart gesottenen Befürwortern der Eskalation widerstehen und zumindest Glücksspieler unter Kontrolle bringen wollen, müssen sich mit einem lähmenden Widerspruch in ihrer eigenen Position und Botschaft auseinandersetzen: Sie teilen immer noch dasselbe wahnhafte Narrativ mit den Extremisten. Beide Gruppierungen bekräftigen immer wieder, dass Russland plant, das restliche Europa anzugreifen, sobald die Ukraine besiegt wurde, und es daher für den Westen lebenswichtig ist – oder laut Macron “existenziell” –, Russland in der Ukraine zu stoppen.
Dieses Narrativ ist absurd. Die Realität sieht genau umgekehrt aus: Der sicherste Weg, in einen Krieg mit Russland zu geraten, besteht darin, offen Truppen in die Ukraine zu schicken. Und was für die EU und die NATO existenziell ist, wäre, sich endlich von der amerikanischen “Führung” zu befreien. Während des Kalten Krieges konnte argumentiert werden, dass West-Europa die Unterstützung der USA benötigte. Nach dem Kalten Krieg war dies jedoch nicht mehr der Fall. Als Reaktion darauf hat Washington eine konsequente, verwaltungsübergreifende, überparteiliche, wenn auch oft grobe Strategie umgesetzt, um das zu vermeiden, was unvermeidlich hätte eintreten sollen: die Emanzipation Europas von der US-amerikanischen Vorherrschaft.
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Sowohl die Osterweiterung der NATO, die wie vorhergesagt einen massiven Konflikt mit Russland ausgelöst hat, als auch der aktuelle Krieg in der Ukraine, den Washington über Jahrzehnte hartnäckig provozierte, war Teil der US-Strategie, um “Europa unten zu halten”. Und die europäischen Eliten haben dabei mitgespielt, als gäbe es kein Morgen mehr – was für sie vielleicht nicht der Fall sein wird.
Wir befinden uns an einer potenziellen Belastungsgrenze, in einer Krise dieser langfristigen Entwicklung. Wenn die Pragmatiker in der EU und der NATO die Extremisten wirklich eindämmen wollen, die damit liebäugeln, einen offenen Krieg zwischen Russland und der NATO loszutreten, der zumindest Europa vernichten würde, dann müssen sie jetzt ihre Karten offenlegen und sich endlich vom gemeinsamen, ideologisch getriebenen und völlig unrealistischen Narrativ über eine existenzielle Bedrohung aus Moskau verabschieden.
Solange die Pragmatiker es nicht wagen, die Extremisten herauszufordern, wenn es um das grundsätzliche Verständnis der Ursachen der gegenwärtigen Katastrophe geht, werden die Extremisten immer den Vorteil der Beständigkeit haben: Ihre Politik ist töricht, überflüssig und äußerst riskant. Und doch folgen sie dem, was der Westen sich hat einreden lassen. Es ist höchste Zeit, den Bann der Selbsthypnose zu brechen und den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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