Meinung

“Wir lieben Wagner, Putin und unsere Generäle” ‒ Wie ein US-Reporter den 24. Juni in Rostow erlebte

"Wir lieben Wagner, Putin und unsere Generäle" ‒ Wie ein US-Reporter den 24. Juni in Rostow erlebte

Quelle: Sputnik © Segrei PiwowarowDie versammelten Rostower umzingeln einen Wagner-Panzer vor dem Zirkus-Gebäude am Woroschilowski-Prospekt.

Von Wladislaw Sankin

Im Dezember war ich in Donezk zum Dreh. An einem Abend jener Reise wurde meine Wohngegend im Zentrum der Stadt beschossen. Nur wenige hundert Meter von meinem Haus krachte es gewaltig ‒ der Boden bebte, der Himmel wurde für einige Augenblicke hell. So etwas passierte damals und passiert immer noch täglich in dieser Stadt, aber zum ersten Mal in meiner Blickweite. Nach einer kurzen Zeit nahm ich meine Kamera mit und eilte zum Ort des Beschusses. 

Dieser befand sich an einer wichtigen Verkehrsader der Stadt. Zum Glück starb niemand ‒ Wohnungen im obersten Geschoss, die beschädigt wurden, waren offenbar unbewohnt. Auf der Straße lagen Dach- und Trümmerteile herum. Von der journalistischen Kollegenzunft war niemand da, außer Patrick Lancaster. Er stand in Helm und Panzerweste, hielt Teile der verglühten Geschosshülse in der Hand und erzählte in die Kamera, was passiert war.

Prigoschin

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Analyse Der kollektive Westen jubelt Prigoschin zu und riskiert damit einen weiteren Weltkrieg

Natürlich kannte ich ihn, wie Tausende andere Abonnenten, die nach authentischen Frontberichten in englischer Sprache aus dem Donbass suchten. Seit neun Jahren berichtet der ehemalige US-Marine aus Donezk und umliegenden Orten. Sein Bericht aus dem beschossenen Soldatengraben “Unter Feuer” aus dem Jahr 2016 wurde auf Youtube drei Millionen Mal geklickt.

Lancasters Blick ist unvoreingenommen, er sagt und bewertet nur das, was er sieht. Und er eilt immer dahin, wo es brennt. Rostow am Don, eine südrussische Millionenstadt, war am Samstag, dem 24. Juni 2023, der Ort, wo ein russischer Bürgerkrieg hätte entflammen können ‒ mitten im Ukraine-Krieg, als die feindlichen Kräfte eine Offensive starteten. Die kampferprobten Wagner-Söldner nahmen die Stadt bei Morgengrauen widerstandslos unter Kontrolle. Der Anführer der Meute, Jewgeni Prigoschin, rechnete damit, dass mindestens die Hälfte der regulären Armee ihn unterstützen würde. Dabei erhoffte er sich Befehlsverweigerung und Massenübertritte, die im schlimmsten Fall zum Kampf “jeder gegen jeden” hätte enden können.

Gleichzeitig schickte er eine Kolonne mit tausenden Kämpfern Richtung Moskau. Diesen Marsch nannte der angebliche Bezwinger der Korruption “Marsch der Gerechtigkeit”. Das Verlangen nach Gerechtigkeit ist neben der Freiheitssuche das stärkste Motiv, das große Volksmassen in Bewegung versetzen könnte, so war es zumindest in Russland. Nur einen Tag zuvor hatte er in einem Interview gesagt, dass der russische Einmarsch in die Ukraine nicht zum Schutz des Donbass erfolgte, sondern damit Sergei Schoigu, der Verteidigungsminister, einen weiteren Stern bekommen könnte. Damit widersprach er nicht nur dem offiziellen Regierungsnarrativ. Er avancierte zum Oppositionspolitiker mit eigener Privatarmee, der nach einer “Gleiwitz-Lüge” – dem angeblichen Beschuss des Wagner-Lagers durch die reguläre Armee (als Falschmeldung schon entlarvt) – seine Truppen für die Durchsetzung seiner Forderungen mobilisierte.

Die Bilder von Wagner-Kämpfern, welche die leeren Straßen von Rostow “erstürmten”, und ihren ersten verbalen Auseinandersetzungen mit erstaunten Einwohnern gingen um die Welt. US-Reporter Lancaster stieg nur mit einer Handykamera in Donezk ins Auto, kam aber wegen vieler Straßensperren erst nach zehn Stunden in Rostow an.

“Wie in einem Film” ‒ Wagner-Söldner in Rostow.www.globallookpress.com

Als er im Zentrum Rostows ankam, war es schon dunkel. Unterwegs bemerkte er, dass im Laufe des Tages zwischen dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko und Prigoschin eine Vereinbarung über den Abzug der Wagner-Truppen vereinbart wurde. Wie wir heute wissen, musste zu diesem Zeitpunkt die Spitze der Wagner-Kolonne nur noch eine halbe Stunde fahren, um auf die ersten befestigten Positionen der Armee vor den Toren Moskaus zu stoßen. Und in Rostow warteten schon die “Achmat”-Kämpfer aus Tschetschenien auf den Sturmbefehl, nur 500 Meter von den Wagner-Positionen entfernt.

Was Lancaster in Rostow sah, war grundlegend anders als das, was er erwartete. Am Woroschilowski-Prospekt, der wichtigsten Verkehrsader, die beide durch den Don geteilten Stadthälften verbindet, sah er jubelnde Einwohner, die wie in einem Spalier die Straße umzingelten und die Wagnerianer zum Abschied beglückwünschten ‒ “vielleicht nicht Tausende, aber Hunderte ganz sicher”, berichtete der Reporter.

In diesem Moment war der US-Amerikaner Lancaster fast der einzige, der überhaupt einen unparteiischen Blick auf das Geschehen vermitteln konnte. Der Wagner-Aufstand wurde vom russischen Präsidenten noch um 10 Uhr morgens als Meuterei und Dolchstoß in den Rücken des russischen Volkes verurteilt. Jeder Bürger Russlands musste danach eine klare und unmissverständliche Position zu dem Geschehen beziehen. Auch die Berichterstatter. Aber wie soll man mit dieser offenen Sympathie der Einwohner Rostows zu den Aufständischen umgehen? Der differenzierte Bericht Lancasters über den Abzug der Wagner-Truppen liefert daher ein wertvolles Zeitzeugnis.

Das System Putin wankt – wieder mal: Deutsche Medien über den Aufstand der Wagner-Truppen

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“Wir warten auf euch!”, ruft eine Frau den Bewaffneten zu. Auf die Frage des Reporters, wie sie sich fühle, sagte sie: “Sehr gut. Das sind unsere Jungs, wir freuen uns, sie zu sehen. Lass uns schnell alle vereinigen! Zusammen sind wir stark, Achmat und Wagner.” Lancaster spricht ein Ehepaar an, das am Straßenrand steht. Ihre Gesichter strahlen. “Gab es Probleme heute?” “Nein, alles wunderbar”, sagt die Frau. “Was ist heute passiert?” Die Leute haben Schwierigkeiten, eine Antwort zu finden. “Es war wie in einem Film”, sagt die Frau schließlich.

In diesem Moment warnt die Stimme aus dem Lautsprecher eines Polizeiwagens die Schaulustigen: “Sehr geehrte Bürger, bitte halten Sie Abstand von der Straße” ‒ die Kolonne mit Militärtechnik rollt vorbei. Der Reporter fragt weiter: “Was denken Sie über die Wagnerianer?”, woraufhin der Mann sagt:

“Es gab keine Angst. Sie sind wunderbare Jungs. Sie sind Teil des Volkes.” 

Fast alle Anwesenden halten ihre Handykameras hoch und filmen die schwere Militärtechnik und die Wagner-Kämpfer ‒ so auch zwei hübsche, etwa 20-jährige Frauen: “Es ist einfach klasse alles.” Die beiden können vor Begeisterung kaum sprechen. Der Reporter wundert sich. “Wir haben aus den Nachrichten gehört…” Eine der jungen Frauen flucht vor lauter Freude und entschuldigt sich lachend dafür.

Eine weitere Frau, die zusammen mit ihrem Mann am Straßenrand steht, sagt über die Wagnerianer: “Ihr seid die Besten”, und zum Reporter: “Wir sind glücklich.” Ihr Mann dazu: “Putin ist unser Hauswirt.” ‒ “Ja”, bestätigt die Frau. 

“Wir lieben Wagner, wir lieben Russland.”

Sie betont: “Es gab keine Probleme heute, alles ist wunderbar.” Wenig später spricht er wieder mit den beiden. Die Frau sagt: “Es gibt keinen Konflikt. Wir lieben unseren Präsidenten, wir haben den besten Präsidenten, wir lieben Wagner, unser Verteidigungsministerium ist super.” Ihr Mann wirft ein: “Das sind die besten Sturmtruppen der Welt.” Die Frau weiter:

“Wir haben immer geglaubt, dass alles gut gehen wird. Die Russen sind ein vernünftiges Volk. Dass alles auf friedlichem Wege gelöst werden wird. Wir haben daran geglaubt und so ist es auch gekommen. Wir sind Gott dankbar. Gott ist mit uns. Wir sind stolz auf unser Land.” 

“Wird der Verteidigungsminister entlassen?”, fragt Lancaster. Eine der Hauptforderungen des Wagner-Chefs Prigoschin war die Absetzung des Verteidigungsministers Sergei Schoigu und des Generalstabschefs Walerij Gerassimow. Die Frau sagt: “Wir haben darüber noch nicht nachgedacht. Kann sein. Wir hoffen jedenfalls auf das Beste. Ich denke, der Präsident findet einen Weg.” Ihr Mann merkt an: “Wir haben starke Generäle, die kämpfen können.” Der Reporter gibt nicht nach: “Sind Sie zufrieden mit der Arbeit des Verteidigungsministers?” 

“Offenbar lief da nicht alles glatt. Sonst wäre dieser Zwischenfall nicht passiert. Man muss also nach Optionen für eine Verstärkung suchen.”

Dann geht er auf eine Gruppe Wagnerianer zu, die in einem Mannschaftswagen sitzt. Alle sehen sehr jung aus, ihre unteren Gesichtshälften sind verdeckt. Der Mann geht ebenso auf sie zu. “Jungs, ihr seid großartig. Das ist ein ausländischer Korrespondent”, stellt er Lancaster vor. Ein kleiner Dialog findet statt:

“Wie ist die Lage?”

“Wunderbar.”

“Was werdet ihr jetzt machen?”

“Weiterarbeiten.”

“Wir werden siegen!”, sagt der Mann. Einer der Kämpfer merkt schmunzelnd an: “Vormittags waren wir Terroristen, nachmittags klasse Jungs.”

“Nee, wir waren von Anfang an für euch”, sagt der Mann. Der Wagen setzt sich in Bewegung. “Seien Sie vorsichtig”, ruft der junge Kämpfer zum Abschied.

Schließlich fasst ein Student die Situation auf passablem Englisch für den Reporter zusammen:

“Es gab einen Interventionsversuch. Zum Glück hat sich ein Weg aus der Krise gefunden, fast ohne Opfer. Wir sehen, dass die Menschen Wagner unterstützen und ähnliche Ziele haben, und hoffen, dass dies alles letztendlich zum Sieg führen wird.” 

“Warum unterstützen die Menschen sie?”

“Ich denke, weil sie sie respektieren und sich freuen, dass man den Konflikt managen konnte, dass man den Bürgerkrieg vermeiden konnte.”

“Was denken Sie persönlich über ‘Wagner’?”

“Ich respektiere sie dafür, was sie machen. Und ich vermute, dass ein Missverständnis die Ursache (der Meuterei) war – Bürokratie, ein unklarer juristischer Status. Das Blut kochte, aber im Moment ist die Gefahr nicht so groß. Ich denke, dass einige Veränderungen kommen werden, zum Besseren.” 

Zum Abschied sagt Artur, so heißt der Gesprächspartner, dass er seit dem zweiten Karabach-Krieg Videos des Kriegsreporters regelmäßig schaut. Auch damals, im Oktober 2020, eilte Lancaster schnell zu diesem Brennpunkt und berichtete wochenlang direkt von der Front.  

Zwischenzeitlich wird Patrick Lancaster für seinen langjährigen Einsatz mit einem kleinen journalistischen Glücksmoment belohnt: Plötzlich taucht ein Geländewagen mit Wagner-Chef Prigoschin auf. Nun ist sein Name weltweit bekannt. Das Fenster ist geöffnet, die Menschen erkennen Prigoschin und eilen zum Wagen. Einige versuchen, ihm die Hand zu drücken. Dem US-Reporter gelingt ein Kurzdialog.

“Wie ist das Ergebnis heute?”

“Wie wir weiter leben werden?”, fragt Prigoschin nach. Dann versteht er die Frage.

“Das Ergebnis ist normal. Alle sind jetzt aufgerüttelt (Всех взбодрили).”

“Auf Wiedersehen!”

Prigoschin erhebt zum Abschied die Faust, der Wagen fährt ihn weg. Nun ist bekannt, dass er und Teile der Wagner-Gruppe bereits im benachbarten Weißrussland eingetroffen sind. Dies war Teil der Abmachung, die Alexander Lukaschenko nach mehrstündigen zähen Verhandlungen mit ihm erzielt hat. Laut vielen Experten war der Erhalt seines Militärunternehmens in seiner jetzigen Form das Hauptmotiv des kurzzeitigen Aufstandes. Bis zum 1. Juli sollten sich die Kämpfer für Direktverträge mit dem Verteidigungsministerium entscheiden, und Prigoschin wollte dies mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Erpressung verhindern. 

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Wofür bedankten sich aber die Menschen bei ihm? Dieser Mann, der in den letzten Monaten als Chef einer erfolgreichen Kampfeinheit zu einem medialen Anprangerer der angeblichen Militärbürokratie und Korruption geworden ist, hat das Land an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht. Allein am Samstag starben mehr als ein Dutzend hochqualifizierte Armeeangehörige, darunter Piloten und eine nicht bekannte Anzahl an Wagner-Kämpfern. Die Meuterei des privaten Militärunternehmens erfüllte ganz klar die Kriterien eines bewaffneten Aufstands.

Dennoch, obwohl die Wagnerianer eine friedliche russische Stadt mit erhobenen Gewehren kurzzeitig besetzten, stellten sich die Einwohner nicht gegen sie. Für die Bevölkerung waren es Soldaten, die den Ruß der nur wenige Wochen zurückliegenden Kämpfe in ihren Gesichtern noch nicht abgewischt hatten. Sie haben einen wichtigen Sieg in Artjomowsk und zuvor in anderen Städten errungen. Und sie waren wirklich froh, dass Russland nicht in den Abgrund des Blutvergießens und des Bürgerkrieges gestürzt ist – das ist der Hauptgrund für die Reaktion der Einwohner der Stadt. Dazu schreibt die russische Ex-Politikerin und Politikanalystin Elena Panina:

“Alle Versuche im Westen und in Russland, die Bürger von Rostow als Unterstützer der Rebellion und Sympathisanten von Prigoschin, quasi als ‘Befreierhelden gegen das Regime’, darzustellen, sind eine eklatante Lüge im Rahmen des Informationskrieges gegen unser Land.”

Ihrem Kommentar fügt sie einen Ausschnitt aus dem Lancaster-Video als Beleg hinzu. In der Tat, keiner der Gesprächspartner in der Reportage hat etwas Kritisches gegenüber der Regierung oder der regulären Armee gesagt, ganz im Gegenteil. Zwar war die Lösung des Konflikts durch und durch realpolitisch. Aber allem voran war sie für alle Konfliktparteien gesichtswahrend und friedlich, und die Menschen haben diese Besonnenheit zelebriert.

Dies war angesichts des gefährlichen Krieges gegen die vom gesamten NATO-Block ausgerüstete und finanzierte Ukraine von größter Bedeutung für die russische Bevölkerung. Einen Hauch des Krieges bekam sie nun unmittelbar in ihren Städten zu spüren, was mittelfristig ziemlich sicher zu mehr Disziplin im Landesinneren und mehr Zusammenhalt in der Bevölkerung führen wird. Keine gute Entwicklung für diejenigen, die Russland eine Niederlage durch gesellschaftliche Spaltung herbeiwünschen.

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