Quelle: www.globallookpress.com © Cheng Min/Xin Hua China wird erst noch verstehen müssen, dass auf der Welt Vieles kostbarer ist als sogar der Frieden
(Symbolbild: Schwert von Goujian, gefertigt 770-476 v.C. Museum der Provinz Hubei, Wuhan, Hubei, China, 20. Dezember 2021)
Kommentar von Timofei Bordatschow
Die vorläufigen Ergebnisse der bisher nur diplomatischen Eskalation zwischen den USA und China über den Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Taiwan zeigen: Noch gibt es auf der Welt nur zwei Supermächte. Genau: nur zwei. Denn der Indikator für diesen Status ist nicht so sehr die Menge der materiellen Ressourcen oder die physische Größe des Staates, sondern die Fähigkeit, alles für seine Interessen, Werte und Prinzipien aufs Spiel zu setzen – und zwar wirklich alles.
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China zog für den durch “Pelosis Provokation” ausgelösten Konflikt eine friedliche Lösung vor – obwohl Pekings Schritte einigen Beobachtern durchaus Anlass gegeben hatten, einen dramatischeren Verlauf der Ereignisse zu erwarten. Dies zeigt, dass Peking trotz all seiner Macht moralisch noch nicht bereit ist, den Frieden im Namen der Gerechtigkeit aufs Spiel zu setzen und zu opfern. Angesichts der Tatsache, dass das Reich der Mitte Russlands wichtigster Verbündeter in dessen militärisch-diplomatischem Konflikt mit dem Westen ist, müssen die jüngsten Geschehnisse um Taiwan in diesem Hinblick mit aller Ernsthaftigkeit angegangen und ihre möglichen Folgen penibel kalkuliert und berücksichtigt werden.
Obwohl China den USA viele Positionen in der Welt seit langem streitig macht, ist der chinesische Staat stets zuversichtlich, dass die materielle gegenseitige Abhängigkeit zwischen den beiden Mächten es ihm immer ermöglichen wird, selbst die schwierigsten Fragen auf gütlichem Wege zu lösen.
In Peking ist man der Ansicht, dass die USA die chinesischen Interessen allein aufgrund der Stellung Chinas in der Weltwirtschaft und -politik respektieren müssen. Dieser Ansatz bildet die Grundlage der Strategie Pekings für seine Verhandlungen mit Washington. Aber wir konnten uns ja soeben anschaulich davon überzeugen: In den Vereinigten Staaten ist man weit vom Gedanken entfernt, dass China, ohne zu beweisen, dass es robust Kontra geben kann, dennoch bereits Respekt verdient. Dort lebt man vielmehr nach den konservativsten und leider auch bislang einzig wahren Regeln der menschlichen Gesellschaft.
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Denn so traurig die Einsicht auch ist: Der wichtigste Maßstab für die Stärke von Staaten im Weltgeschehen war und bleibt ihr unverfrorenes Draufgängertum – also die Fähigkeit, in bestimmten Lagen bis zum Äußersten zu gehen. Und wenn man dieses Selbstvertrauen nicht vorweisen kann, dann ist es besser, nicht zu sinnlosen Drohungen zu greifen. “Wer schießen will, der soll schießen und nicht quatschen!”, kommentierte die Figur des Tuco Ramirez aus dem legendären Western The Good, the Bad and the Ugly eine ähnliche Lage. So appellierte am 24. März 1999 der damalige russische Präsident Boris Jelzin an die internationale Gemeinschaft, die USA von der Bombardierung Jugoslawiens abzuhalten. Aber der russische Staatschef hatte den USA damals eben nicht gedroht – und das ja gerade eben darum, weil er wusste, dass die Umsetzung solcher Drohungen für Russland physisch gar nicht möglich war.
Damals stand es also eben noch nicht in Russlands Macht, das Feuer zu eröffnen – so wie China sich heute auf jeden Fall zumindest nicht in der Macht fühlt, die USA von ihren Provokationen gegen grundlegende chinesische Interessen und Werte abzuhalten. Chinas Wirtschaft ist in den Weltmarkt integriert, auf dem der Westen eine führende Position einnimmt, und zwar in einem weitaus höherem Grade als die Wirtschaft Russlands. China hat eine Bevölkerung von fast anderthalb Milliarden Menschen – und dabei nur sehr wenig an eigenen natürlichen Ressourcen. Die chinesische Armee hat seit 1979 keinen Krieg mehr geführt, als Deng Xiaoping seine “erzieherische” Expedition gegen Chinas vietnamesische Nachbarn unternahm. Bei einer militärischen Antwort auf die US-Provokation würde China einen ausgewachsenen Krieg riskieren, in dem die US-Amerikaner bisher einen Vorteil zur See wie in der Luft hätten. Daher ist die Volksrepublik China gefangen in einer Zwickmühle aus ihrer eigenen wachsenden Bedeutung und gleichzeitiger bisheriger Nichtbereitschaft, resolut und ungeachtet der möglichen Risiken für sich selbst einzutreten. Und dies nutzen die USA sehr geschickt aus – denn das Erschaffen von Bedrohungssituationen für andere ist die Grundlage ihrer internationalen Politik als solcher.
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Die westliche Kultur der sozialen Interaktion ist im Allgemeinen auf Konflikten aufgebaut – und die angelsächsische Kultur noch viel mehr. Unabhängig von den Folgen der jüngsten Geschehen für die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und China haben die US-Amerikaner diese kleine Runde der Auseinandersetzung gewonnen – und der Rest kommt später, und dazu Überlegungen anzustellen, wird eben auch erst dann anstehen.
Es wäre seltsam zu erwarten, dass man in Washington Chinas Ego schonen wollte. Wie wir wissen, verfolgt Peking bereits in der Ukraine-Krise eine anti-US-amerikanische Politik und unterstützt Russland auf allen internationalen Plattformen: Wenn wir die Entwicklung von Chinas Position in den Vereinten Nationen betrachten, werden wir feststellen, dass es in den letzten Monaten von einer Neutralität zu einer unmissverständlichen Verurteilung des Westens als Hauptverursacher der Krise in Europa und der meisten Probleme der Menschheit im Allgemeinen übergegangen ist. (Das im Übrigen ist die reine Wahrheit, denn der Westen hat in der Tat den größten Einfluss auf den Zustand der Welt und trägt allein schon daher die größte Verantwortung für alle Probleme.)
Auch wäre man naiv zu erwarten, dass die USA immer noch hoffen, die Chinesen auf ihre Seite zu ziehen: Der Kampf zwischen diesen Mächten beruht auf einem objektiven Widerspruch in deren jeweiligen strategischen Entwicklungsprioritäten. Die USA wollen sich die Möglichkeit ihrer parasitären Existenz auf globaler Ebene bewahren, wofür sie Ressourcen brauchen, während China seinerseits dieselben Ressourcen benötigt, um eine interne Stagnation und eine anschließende soziale Explosion zu vermeiden.
Die chinesische Gesellschaft steigert nämlich unaufhaltsam den Konsum. Und die Bedeutung dessen, dass Hunderte von Millionen Menschen ein besseres Leben wollen, liegt also darin, dass sie den USA das wegnehmen müssen, was diese früher als ihr Recht des Stärkeren betrachteten. In der Wissenschaft wird so etwas als das Entstehen einer revolutionären Situation bezeichnet: Chinas Geduld und der Druck der Vereinigten Staaten bringen das Endspiel dieser Partie immer näher. Darüber hinaus macht Pelosis erfolgreiche “Provokation” es wahrscheinlicher, dass Taiwans Rückkehr in die Volksrepublik China auf die für seine Bevölkerung dramatischste Art und Weise stattfinden wird. Die einheimischen Nationalisten dort haben jetzt nämlich einen kräftigen Bonus an Selbstvertrauen erhalten – die Vorsitzende des US-Kongresses wird dort gleichzeitig als Heldin und Symbol der bedingungslosen Unterstützung Washingtons wahrgenommen. Wir können daher nicht ausschließen, dass China in den nächsten Monaten entweder einen Weg finden muss, sich von der Idee eines einheitlichen Staates auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden – oder sich tatsächlich zu einer Militäroperation mit sehr riskanten Folgen für die ganze Welt entschließen wird. Mehr noch: Viele Beobachter vertreten die Ansicht, dass die zweite Variante bereits im kommenden Herbst und auch ohne Pelosis Zwischenfunken mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte eintreten können.
Meinung
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Für Russland bedeuten diese Geschehnisse, dass Moskaus Unterstützung für China bei dessen gerechten Forderungen in der Taiwan-Frage und ganz allgemein bezüglich der Präsenz der USA in regionalen Angelegenheiten Asiens weiter gestärkt werden muss.
Erstens, weil es Peking selbst ist, das Russland in den letzten Monaten so gut wie es eben ging geholfen hat – und undankbar sein entsprechend keine Option ist. Umso mehr als die Chinesen selbst ernsthaft den Glauben an jegliche Verhandlungsmöglichkeiten mit Washington verloren zu haben scheinen – ebenso wie daran, dass sie im Gegenzug für gesunden Menschenverstand in ihrem eigenen Verständnis bereits mit Washingtons Respekt rechnen können.
Zweitens wird der Grad des unverfrorenen Draufgängertums der USA gefährlich – und das nun auch für die ganze Welt. Mit Ermahnungen, ihr Schicksal einer Hegemonie im Rückzug zu akzeptieren, wird man sie nie und nimmer aufhalten können. Absolut unmöglich. Die qualitative Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und China nach dem 2. August 2022 könnte damit also die Frage eines formellen chinesisch-russischen Bündnisses auch schon in die praktische Perspektive rücken. Das Ziel der Annäherung zwischen China und Russland besteht nicht mehr nur darin, eine gerechtere Weltordnung zu schaffen, sondern weitet sich dahingehend aus, diese wenigstens in ihrer absolut minimalen Form zu bewahren.
Vor Jahrzehnten stellte Henry Kissinger in seinem wichtigsten Werk über internationale Politik eine These auf, die als eine Abwandlung des Gleichnisses des schwächsten Kettengliedes sehr leicht intuitiv verständlich ist:
“Wenn das Ziel der Staaten der Frieden als solcher ist, dann wird dem aggressivsten Mitglied der Gemeinschaft überlassen, über das Schicksal dieses Friedens zu verfügen.”
Im Moment sind die Vereinigten Staaten ein solcher Zerstörer des Friedens, und es liegt an der Entschlossenheit der anderen, ob sie den Weg zu Ende gehen können, der in jedem Fall in einen weltweiten Konflikt mündet.
Russland für seinen Teil hat seinen Zug gemacht und die Bereitschaft gezeigt, trotz materieller Verluste dem gesamten kollektiven Westen im Kampf entgegenzutreten. China aber wird aller Wahrscheinlichkeit nach erst noch erkennen müssen: Auf der Welt gibt es viele Dinge, die noch wichtiger sind als sogar der Frieden selbst.
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