Analyse Niederlande: Regierungskrise wegen Bauernenteignung und Migrationspolitik
Zwei Listen ziehen ebenfalls die Aufmerksamkeit auf sich. Erstens die von Pieter Omtzigt, einem Dissidenten der Christdemokraten, geführte Liste, die sich in ihrer Kampagne auf “gute Regierungsführung” konzentrierte, insbesondere öffentliche Skandale, wie die ungerechtfertigte Streichung von Sozialleistungen für Zehntausende von armen Familien, angeprangert hatte. Seine Positionierung gegen Korruption und das System hatte den Politiker der “rechten Mitte” sogar eine Zeit lang an die Spitze der Umfragen katapultiert.
Ohne ein Gegner der EU zu sein, lobte er indes die ungarischen oder polnischen Führer dafür, dass sie die nationale Souveränität “zum Thema machten”, lehnte jede “progressive Übertragung von Subsidiarität, Befugnissen und Budgets” ab und befürwortete ein Vetorecht der nationalen Parlamente – eine Forderung, die den EU-Verträgen widerspricht. Seine Bewegung (Neuer Gesellschaftsvertrag, NSC), die 2021 noch nicht existierte, erreicht 12,8 % und den vierten Platz.
Eine weitere neu entstandene Partei ist die BBB (Bürgerliche Bauernbewegung), die 4,7 % erreicht, während sie vor zwei Jahren noch bei 1% lag. Das ist zwar weit entfernt von ihrem Ergebnis bei den Regionalwahlen im März, wo sie eine riesige Überraschung hervorrief, als sie vor allen anderen Parteien landete. Aber ihr Hauptthema, die Ablehnung der europäischen Umweltauflagen, die zum Verschwinden von fast 12.000 Bauernhöfen und Hunderttausenden von Rindern führen werden, bleibt, auch außerhalb der ländlichen Gebiete, populär.
Wie geht es jetzt weiter? Das niederländische Verhältniswahlrecht ohne Mindesthürde ermöglicht die Vertretung einer großen Anzahl von Parteien im Abgeordnetenhaus (16 diesmal). Diese Zersplitterung macht eine Vielzahl von Koalitionen möglich. Klassischerweise werden daher viele Monate benötigt, um eine Regierung zu bilden.
Zwei Arten von Szenarien scheinen denkbar. Das Logischste wäre, dass die PVV eine Koalition bildet, da sie als erste und große Gewinnerin aus den Wahlen hervorgeht. Geert Wilders bestätigte, dass er sehr gern im nächsten Kabinett mitarbeiten würde, ohne jedoch zu sehr darauf zu bestehen, dessen Vorsitzender werden zu wollen. Er könnte sich ein Bündnis mit der liberalen VVD oder Omtzigts NSC vorstellen, oder am besten mit beiden, flankiert von der BBB.
Die Liberalen schlossen während des Wahlkampfs ein Bündnis mit dem “populistischen” Führer trotz vergangener Konflikte nicht aus ‒ sie hatten aber wohl nicht damit gerechnet, dass dieser die Nase vorn haben würde. Pieter Omtzigt, der die Tür ursprünglich geschlossen hatte, ist seinerseits nicht mehr so kategorisch. Die BBB hat bereits zugestimmt.
Das andere Szenario sieht eine “große Koalition” vor, die Wilders fernhalten soll. Mehrere Konstellationen sind möglich, aber dieses Bündnis würde wahrscheinlich von den Sozialdemokraten angeführt werden. Diese Aussicht würde die EU-Führer natürlich freuen.
Aber sich so demonstrativ gegen das Wahlergebnis zu stellen, würde die Distanz zu oder sogar die Ablehnung des “Systems” und der europäischen Integration nur noch verstärken und damit zukünftige, noch größere “böse Überraschungen” vorbereiten.
Analyse Drei Wahlen treiben Brüssel den Angstschweiß auf die Stirn
Unabhängig davon, welche Koalition gebildet wird, erlebt Brüssel bereits ein Albtraum-Szenario: Eines der sechs Gründungsmitglieder der EU hat eine Partei gewählt, die fordert, “die Kontrolle zurückzugewinnen” (ein Ausdruck, der bei den Eurokraten sehr unangenehme Erinnerungen weckt…), und zwei neue Parteien ins Leben gerufen, die auf der dringenden Notwendigkeit bestehen, gewisse nationale Kompetenzen zurückzuholen.
Wird Brüssel diese Botschaft verstehen wollen?
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