Meinung

Die Freiheit, die ich meine

Die Freiheit, die ich meine

Quelle: Legion-media.ru © CHROMORANGESymbolbild

Gastkommentar von Dr. Karin Kneissl

Als ich Mitte der 1980er Jahre für meine Dissertation zum Grenzbegriff im Nahen Osten zwischen Israel, Jordanien und Syrien in Archiven recherchierte, erlebte ich tief sitzenden Hass und eine umfassende Abschottung, die sich aus dem Kriegszustand seit dem Jahr 1948 ergab. Weder Radiowellen noch TV-Signale überquerten die Grenzen. In den besetzten palästinensischen Gebieten, wie in der Altstadt von Jerusalem, war dennoch das jordanische TV-Programm zu empfangen.

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Alles andere war medial hermetisch abgeschirmt. An Informationen von “der anderen Seite” gelangte man nur unter mühevollem Aufwand, indem man sich selbst auf den Weg machte. Der Verdacht der Spionage lag dann meist auf der Hand. Als jemand, der sowohl Arabisch als auch Hebräisch erlernt hatte, war ich ebenso diesem Vorwurf ausgesetzt. Doch die nahöstlichen Sicherheitsdienste waren seriöser als die westlichen und ich wurde in Ruhe gelassen. 

Leben und leben lassen – das war einmal 

Im Jahr 2022 erleben wir eine mediale Mauer der EU versus russische TV-Stationen im Namen von Zensur und Sanktionen, die ihresgleichen sucht. Wer Links zu Artikeln von RT.de verbreitet, muss in Österreich mit einer Geldstrafe von bis zu 50.000 Euro rechnen. In Moskau hingegen kann ich sämtliche Websites öffnen, kann BBC, wie CNN oder France 24 sehen, hören, digital lesen und auch in sozialen Medien weiter verteilen. In umgekehrter Richtung ist dies nicht mehr möglich. Die Sanktionen, die Medien betreffen, sind im aktuellen neunten EU-Russland Sanktionspaket nochmals fest geschnürt und spiegeln besonders den Niedergang wichtiger bürgerlicher Freiheiten, wie Rede- und Pressefreiheit, wider.

Der einstige Pluralismus, den ich als Studentin zwischen Österreich, Frankreich und Italien genoss und aufgrund meiner Nahosterfahrung innig zu schätzen wusste, hat sich über die letzten Jahre aus dem akademischen Leben wie nun auch der europäischen Medienlandschaft zurückgezogen. Eine Monokultur und Selbstzensur sind an die Stelle der einstigen Vielfalt und der bürgerlichen Freiheiten getreten. Aus Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung halten viele den Mund.

Die Zeiten, als man bei einem Abendessen unter Freunden über alles diskutieren, vielleicht auch streiten konnte, um sich dann in Freundschaft zu verabschieden, sind dahin. Eine Haltung, die ich stets vertrete, lautet: “Leben und leben lassen”. Jeder möge nach seiner Façon glücklich werden, solange er sich im Rahmen der Gesetze bewegt. Wenn letztere aber immer mit moralischen Geboten versetzt werden, der innere Kompass versagt, dann ist dieser einstige Pluralismus, der Europa seit den antiken Stadtstaaten ausmacht, dahin.

Wann all dies genau begann, kann ich Ihnen nicht sagen. Es passierte wohl irgendwann um die Jahrtausendwende, als man sich zu Terrorismus, Irakkrieg und vielem mehr zunehmend an den gedanklichen Vorgaben der wesentlichen Verlagshäuser, Denkfabriken, Experten und übriger orientierte.

Der Konsens im Orient

Interessanterweise öffnete sich damals vieles in den nahöstlichen Staaten allen Kriegen und dem Terrorismus zum Trotz. Auch der Islamismus, eine der ersten Antiglobalisierungsbewegungen, konnte so manche Veränderung und den neuen Pragmatismus nicht aufhalten. Vor dreißig Jahren war dies noch anders.

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Ein Schatten der Angst lag über vielen. An der Universität von Amman wurde kaum diskutiert, Fragen waren selten. Alle wussten, dass unter den Studenten wie auch dem Lehrpersonal Mitarbeiter der Nachrichtendienste waren. Es war ratsam, zu schweigen, um sich nicht verdächtig zu machen. An dem Tag, als ich mein Studium an der Hebräischen Universität im Jahr 1987 begann, wurde ein israelischer Professor verhaftet, da er PLO-Vertreter, also Palästinenser einer damals als Terrororganisation eingestuften Bewegung, in Rumänien getroffen hatte. Das war die damalige Situation der permanenten Anspannung, des wechselseitigen Verneinens des Rechts auf Existenz.

Seit rund sieben Monaten lebe ich wieder im Nahen Osten, da ich innerhalb der EU nicht arbeiten darf. Ich übersiedelte in den Libanon, wo ich Freunde aus Jugendtagen habe, inmitten der schlimmsten Krise, welche die Menschen durchleben müssen. Zwischen Cholera, Hyperinflation und der syrischen Flüchtlingsmisere ist der Alltag zäh, vor allem, wenn man ohne Familienverband, der Ersatz für die staatliche Verwaltung ist, lebt. Doch etwas hat in dieser Gesellschaft überlebt: Es ist eine gelebte Freiheit, nicht eine normierte Vorgabe, die sich in Texten wiederfindet. In dem von Krieg und regelmäßiger Vernichtung der Infrastruktur zerstörten Land darf ich einen Pluralismus erleben, der in Europa vor einiger Zeit bedauerlicherweise verschwunden ist. Spätestens mit der Migrationskrise im Jahr 2015 wurde deutlich, dass gerade Deutschland nur mehr in schwarz-weiß dachte.

In den orientalischen Gesellschaften hingegen dürfen Grautöne immer noch bestehen, es geht um “sowohl als auch” und nicht “entweder oder”. Die letzten Diplomaten, die sich um Vermittlung bemühen und Brücken bilden, sind im Orient, nicht im Okzident tätig.

Wenn im Nahen Osten mehr Freiheit herrscht als in der EU

Mit den Russlandsanktionen und dem nunmehr neunten Paket verfestigen sich wie in frisch gegossenem Beton die sogenannten Strafmaßnahmen. Es geht um die Vernichtung von Pressefreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Zensur von Kultur, Verletzung des Rechts auf Eigentum und vieles mehr. Im östlichen Mittelmeerraum, der Levante, beziehungsweise dem Nahen Osten, herrscht von der Türkei bis in die arabischen Golfstaaten hinein mittlerweile mehr Pressefreiheit als innerhalb der EU – und damit ist bereits alles über den Zustand der EU gesagt.

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Ich kann in jenen Ländern jede Website abrufen, jeden TV-Kanal empfangen und vieles mehr. Ich kann zwischen Istanbul, meinem kleinen Dorf in den Bergen des Libanons und einem Seminar in Katar oder in einem Tischgespräch über alles diskutieren, ohne aggressiv über Moral belehrt zu werden oder sonst wie attackiert zu werden. Es gilt eben diese Idee von “leben und leben lassen”, und das ist der eigentliche Liberalismus, wenn unterschiedliche Lebensweisen, Religionen und Weltanschauungen nebeneinander bestehen können.

Es ist die Freiheit, die ich meine. Es ist die wesentliche Errungenschaft der europäischen Ideengeschichte, als Individuum frei sein Leben zu bestimmen und andere Lebensstile zu akzeptieren. In diesem sich zu Ende neigenden Jahr der militärischen und politischen Konfrontation ist in Europa viel von diesen bürgerlichen Freiheiten verloren gegangen. Und das erscheint mir langfristig gesehen als noch viel brisanter als ein Stromausfall. Erdgas lässt sich kaufen, Freiheit muss gelebt werden.

Karin Kneissl ist Autorin, unterrichtet und forscht zum Energiemarkt; von 2017 bis 2019 war sie österreichische Außenministerin (parteilos). Im Herbst 2020 verließ sie Österreich infolge von Drohungen und einem de facto Arbeitsverbot. Sie lebt im Libanon und lehrt in Moskau.

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