Quelle: AFP © Andrej Isakovic Gern gesehener Gast in der serbischen Hauptstadt: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (l.) und sein serbischer Amtskollege Aleksandar Vučić bei einer Pressekonferenz am 7. September 2022 in Belgrad.
Von Dr. Karin Kneissl
Der Name Balkan stammt von einer Bergkette, die sich quer durch Südosteuropa zieht. Griechenland ist ebenso Teil dieser Region wie viele der Nachfolgestaaten des einstigen Jugoslawiens. Zugleich ist dieser Begriff mit viel historischem Ballast beladen und oft auch abwertend. Eine besonders groteske Wortschöpfung ist der Westbalkan. Die EU-Kommission fasst in dieser Kategorie all jene Staaten zusammen, die im ewigen Vorzimmer des EU-Beitritts warten. Persönlich verwende ich lieber die Bezeichnung Südosteuropa, denn Belgrad ist ebenso eine europäische Stadt wie Sarajevo und viele andere, die in den letzten 30 Jahren Kriege, Bombardierungen – ob durch die NATO oder diverse Milizen – und viel Leid erleben mussten.
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Während die Mitgliedschaft in der EU für einige Staaten an Attraktivität verliert, sind in den letzten 20 Jahren viele andere Akteure, die investieren und sich politisch engagieren, in der Region aktiv geworden. Dazu zählt unter anderem auch die Türkei bzw. Türkiye, wie nunmehr der offizielle Staatsname lautet.
Neue alte Identität?
Als der Bundesstaat Jugoslawien zerfiel und sich ein neuer Ethnotribalismus herausbildete, saßen die Muslime zwischen allen Stühlen. Während andere sich sehr rasch als Serben, Kroaten oder Albaner neu erfanden und die säkulare Vergangenheit des Vielvölkerstaates aufgaben, hielten die Muslime lange an ihrer jugoslawischen Identität fest. Mit der Brutalität des Krieges und den Massakern an Muslimen allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bildete sich aber auch ein neues Islamverständnis heraus. Saudische Wohlfahrtseinrichtungen streckten ihre Fühler aus, bauten Moscheen und vergaben Stipendien.
Doch auch Ankara wurde sehr bald tätig und trat mit alten historischen und kulturellen Verbindungen auf den Plan. Es war der türkische Akademiker Ahmet Davutoğlu, der vor über 20 Jahren dem aufstrebenden Chef der islamischen Partei AKP, Recep Tayyip Erdoğan, als außenpolitischer Berater zur Seite bestand, bevor er dann später selbst Außenminister werden sollte. Er gilt als einer der geistigen Erfinder der neo-osmanischen Politik, die dem NATO-Staat einen neuen Radius und vor allem ein neues Selbstverständnis für die große türkische Diaspora in Europa schuf. Aus den sogenannten Gastarbeitern wurden oft die selbstbewussten Nachkommen der Osmanen, die über Jahrhunderte ihre Rolle auch in Europa gespielt hatten.
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Dieses Konzept sollte erst recht für die Muslime im fragilen Bosnien-Herzegowina und darüber hinaus interessant werden. Ich erinnere mich gut an eine sehr feurige Rede Erdoğans im Sommer 2014, in der die Gemeinschaft aller Muslime ihren festen rhetorischen Platz hatte. Türkische Unternehmen waren damals bereits ein bedeutender Investor und Arbeitgeber. Türkische Diplomaten vermittelten im Krisenalltag zwischen den einstigen Teilrepubliken oft erfolgreicher, vor allem aber diskreter als EU-Sondergesandte und andere Vertreter der internationalen Organisationen.
Die türkische Vermittlerrolle
Nunmehr wird Ankara als Vermittlerin auch in Belgrad in höchsten Tönen gelobt. In einer gemeinsamen Presseerklärung wies Aleksandar Vučić darauf hin, dass die Beziehungen zu Türkiye derzeit ihren Höhepunkt erlebten. Zudem würdigte er die “friedensstiftende Diplomatie” Ankaras und des türkischen Staatschefs. Vučić betont seine Zufriedenheit über die unterzeichneten Abkommen und würdigte die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern. Er lud die türkische Bevölkerung ein, Serbien zu erkunden. “Wir freuen uns, die türkische Sprache zu hören und unsere türkischen Freunde in unserem Land zu sehen”, so der serbische Präsident.
Teil der sogenannten “public diplomacy” ist die Nachrichtenplattform TRT Balkan. Diese fülle mit Sendungen in den lokalen Sprachen der Region eine wichtige Lücke im Rundfunk, sagte Erdoğan vor seiner Reise durch Bosnien und Herzegowina, Serbien und Kroatien. Erdoğan erklärte, Türkiye verfolge eine ganzheitliche Außenpolitik zur Entwicklung der Balkanregion. Ankara versuche, Spannungen in der Region vorzubeugen und die historischen sowie geographischen Verbindungen zum Balkan aufrechtzuerhalten.
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Die türkische Diplomatie, deren Corps zu den professionellen und global agierenden gehört, erlebt nach einer Phase der Marginalisierung, die viel mit dem Krieg in Syrien und dem Putschversuch im Juli 2016 zu tun hatte, nun eine gut vorbereitete Blütezeit. Die Besuchstour des türkischen Staatschefs, den westliche “Experten” und Medien regelmäßig für politisch tot oder zumindest schwerkrank erklären, ist als gelungene türkische Außenpolitik zu werten. Und jedenfalls ein Beweis, dass Erdoğan noch lange nicht zum alten Eisen gehört, sondern erfolgreich eine sehr aktive Rolle spielt.
Der Stil und die Botschaften haben sich aber geändert. Ankara scheint pragmatischer geworden zu sein, die religiösen Referenzen wurden seltener. Dies ist umso bemerkenswerter als die Ideen des neo-osmanischen Konzepts für diese Region besonders geeignet sind. Die Bindungen reichen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Die Vergangenheit wird wie so oft verklärt und ist zweifellos im architektonischen Erbe allen Zerstörungen zum Trotz vorhanden, so wie die wiedererrichtete Bibliothek von Sarajevo oder die Brücke von Mostar.
Sein ehemaliger Minister und Berater Davutoğlu ist indes aus der AKP ausgeschieden und zum politischen Rivalen geworden. Türkiye versteht sich als Drehscheibe, die global und nicht bloß regional bis nach Südosteuropa auftritt. Nach einigen Unterbrechungen ist das außenpolitische Konzept “Null Probleme in der Nachbarschaft”, das vor 20 Jahren den damaligen Aufstieg Ankaras mitbestimmte, wieder operativ. Die Mitbewerber wie Russland, China, die USA, die Vereinigten Arabischen Emirate und letztlich auch Brüssel sind jeweils auf ihre Weise aktiv. Die Welt ist auch in dieser Ecke multipolarer geworden.
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