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Klassische ukrainische Literaturgeschichte? Alles Russen

Klassische ukrainische Literaturgeschichte? Alles Russen

Quelle: Legion-media.ru © Liubov NazarovaSymbolbild

Von Sachar Prilepin 

Eines Tages rückten wir in eine Siedlung ein. 

Während die Jungen mit dem Minensuchgerät auf dem Hof herumliefen, setzte ich mich in den Schuppen und entdeckte beim Umschauen etwas, das mir wie eine Schatztruhe vorkam. Eine wunderschön gestaltete Bibliothek ukrainischer Literatur – vom siebzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Und ich gestehe, ich habe sie mitgenommen. Nicht nur, weil die Besitzer weg sind und wahrscheinlich nicht zurückkehren werden, sondern auch, weil sie die Bücher aus dem Haus in die Scheune gebracht hatten. Sie brauchten sie also nicht. Aber ich brauche sie.

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In meiner Freizeit habe ich alle Bände durchgeblättert. Und ich möchte Ihnen etwas darüber erzählen.

Erste These, eine proukrainische

In groben Zügen habe ich ukrainische Literatur auf der philologischen Fakultät studiert, ich kenne die wichtigsten Namen, und vieles davon hat mich wirklich interessiert. Aber irgendwie konnte ich mir trotz alledem nicht vorstellen, dass es so viel davon gibt, auch wenn ich viele Namen in literarischen Nachschlagewerken gesehen habe. Namenslisten haben nicht die gleiche Wirkung, wie wenn ich mit eigenen Augen Dutzende von Textbänden, Hunderte von Gedichten, viele Romane und Dramen gedruckt sehe.

Es gibt viele, viele ukrainische Schriftsteller der zweiten Hälfte des 18., des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und das lässt uns natürlich über unsere eigenen elenden Nationalisten lachen, die wirklich glauben, Lenin erst habe die Ukrainer erfunden. Die Ukrainer hatten schon vor Lenins Geburt eine große eigene Literatur. Einfach riesig. Und sie hatten, soweit ich das aus diesen Büchern ersehen kann, ein ausgeprägtes nationales Selbstbewusstsein.

Noch steht es: Das Denkmal für Bogdan Chmelnizkij in Kiew. Der Hetman führte die damals viel kleinere Ukraine in das russische Reich.Miroslaw Rotar / Sputnik

Zweite These, die erste These relativierend

Der Band “Ukrainische Literatur des 14. bis 17. Jahrhunderts” hat natürlich meine besondere Aufmerksamkeit erregt. Ich beschäftige mich seit meiner Jugend mit dem russischen Spätmittelalter. Es ist eine sehr wichtige und in vielerlei Hinsicht verständliche Zeit für mich. Ich habe das ganze Buch durchgeblättert und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Nein, da war nichts Lustiges dabei.

Die Sache ist die, dass die gesamte so genannte “ukrainische Literatur” des 14. bis 17. Jahrhunderts auf Russisch geschrieben wurde.

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Derselbe Band könnte problemlos auch unter dem Titel “Russische (oder südrussische) Literatur” veröffentlicht werden – und niemand würde einen Haken daran finden. Es gibt nicht einmal sehr viele kleinrussischer, regionaler Wörter darin.

Jeder Russe kann auch heute noch die “Ukrainische Literatur des 17. Jahrhunderts” im Original lesen und wird jedes Wort und jeden Satz verstehen wie seine eigene Sprache.

Ich schlage zuerst auf und lese: “Der Berg Sinai steht mittags auf der Jerusalemer Seite, 12 Tage lang gibt es eine Prozession durch die Wüste. Der Weg von Jerusalem nach Ägypten dauert 12 Tage. Das Kloster lag zwischen drei Bergen, und die Berge sind auf beiden Seiten sehr hoch.” Es gibt nicht den kleinsten Unterschied zum Russischen, wie es in der damaligen Epoche war. 

Na gut, denke ich. Ich werde sehen, wie die ukrainische Literatur im 18. Jahrhundert aussah. Auch ihr ist ein ganzer Band gewidmet.

Ich schlage ihn also auf und lese:

“In Kummer, in großem Kummer.

Ich bin immer in Trauer,

um dich, liebes Herz,

seufze ich schwer.

Ich kann dich nicht vergessen,

Liebe Diana,

Du, mein Herz.

Du bist die Auserwählte.”

Und so weiter und so fort.

Ein ganzer Band, mehr oder weniger, mit genau diesem Inhalt. Nun ja: “kochaju” [Anm.: ein ukrainisches Wort für “ich liebe”, speziell körperlich, das es im Russischen nicht gibt] taucht gelegentlich auf.

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Also werde ich Ihnen, werter Leser, jetzt etwas sagen, und zwar ganz ohne Ironie. Bitte hören Sie gut zu, Sie [Anm.: als Russe] werden sich von dieser Minute an ein bisschen mehr respektieren:

Alle Russen sprechen fließend das Ukrainische des 18. Jahrhunderts.

Sie verstehen es nicht nur, wie Sie das moderne Ukrainisch ausnahmslos nach zwei Wochen verstehen würden, Sie sprechen es auch, was Sie sich beim modernen Ukrainisch wahrscheinlich nicht trauen würden. Ebenso verstehen und sprechen Sie die ukrainische Sprache des 17. und des 16. Jahrhunderts. Denn es ist nichts anderes als die russische Sprache.

Erst Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde mit Hilfe polnischer Philologen, die in Russland wirkten, eine ukrainische Literatursprache geschaffen, die auf dem Dialekt des Kleinrussischen basiert. Sie entstand aus dem Dialekt des einfachen Volkes, denn die frühere literarische ukrainische Sprache – die Sprache ihrer ersten Dichter, ihrer Hetmane, ihrer Priester vom 14. bis zum 18. Jahrhundert – unterschied sich nicht vom Russischen.

Die Schlussfolgerung?

Die moderne ukrainische Philologie, die behauptet, dass “die russische Sprache aus der ukrainischen Sprache entstanden ist”, ist eine lächerliche Lüge. Es handelt sich um einen gemeinsamen südrussischen Dialekt, der sich vor etwa 200 bis 250 Jahren bewusst und zielstrebig vom Russischen abspaltete (denn politisch war die Vorgabe gesetzt worden, “sich zu unterscheiden”).

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Wenn ich die ukrainischen Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts lese, ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich sie immer weniger verstehe. In rasantem Tempo und mit viel Fleiß haben sie im Laufe eines Jahrhunderts ihre Sprache und Literatur so geformt, dass sie “sich unterschied”. Wie gut ihnen das gelungen ist, darüber werden wir gegebenenfalls später sprechen.

Die Tatsache, dass die Ukrainer keinen eigenen Puschkin, Tolstoi und Dostojewski hatten, bedeutet nicht, dass sie gar keine Literatur hatten.

Kein anderes slawisches Volk hat Puschkin, Tolstoi oder Dostojewski. Slowaken, Kroaten, Tschechen haben sie ebenfalls nicht. Und was nun? Sollen wir ihre Existenz leugnen?

Lassen Sie uns zusammenfassen

Erstens.

Die ukrainische Literatur (als Trägerin des ukrainischen Selbstbewusstseins) wurde im 19. Jahrhundert geschaffen, und in diesem Sinne ist es unmöglich zu sagen, dass “die Ukrainer wie die Nowgoroder sind, nur im Süden”. Es gibt keine “Nowgoroder Literatur”. Eine ukrainische gibt es unbestreitbar. 

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Zweitens.

Die ukrainische Philologie und die ukrainische Geschichtswissenschaft, die ihre Geschichte auf Kosten der sogenannten Alten Rus in die Vergangenheit ausdehnen, betreiben eine Fälschung, was sie selbst bestens wissen.

Ich werde ihnen jetzt erklären, warum.

Wenn ein moderner Ukrainer, der kein Russisch kann (und die gibt es heute leider schon), diese beiden Bücher in die Hand nimmt – “Ukrainische Literatur des 14. bis 17. Jahrhunderts” und “Ukrainische Literatur des 18. Jahrhunderts” – wird er nichts verstehen – denn er kann kein Russisch.

Im 17. Jahrhundert waren die Ukrainer einfach Russen. Auf die elementarste Weise. Im direktesten Sinne.

Jetzt haben einige Ukrainer das Recht zu sagen: “Sie waren es, sind aber verschwunden, und jetzt haben wir unsere eigene Mowa [Anm.: ukrainischer Begriff für “Sprache”].

Niemand hat das Recht, ihnen zu verbieten, diese Mowa zu benutzen.

Das 1953 entstandene und erst 2013 frisch sanierte Wandbild in der Moskauer Metrostation Kiewskaja feiert die sowjetische Ukraine.Alexander Vilf / Sputnik

Aber dann, Ex-Brüder, Nicht-Brüder, lasst eurerseits eure Finger von Rjurik, Swjatoslaw, Wladimir und Jaroslaw dem Weisen. Vergesst Serko, und Naliwaiko, und Bogdan Chmelnizkij und sogar – ihr werdet es nicht glauben – Doroschenko. Sie haben nichts mit euch zu tun. Sie sprachen eine andere Sprache. Nicht eure Mowa.

Wenn Serko, Naliwaiko und Chmelnizkij in unsere Zeit versetzt würden und wir säßen am Tisch – ich zum Beispiel auf der einen und sie auf der anderen Seite –, so hätten wir keine Schwierigkeiten, uns zu verstehen. Das umgangssprachliche Russisch des 17. Jahrhunderts ist für einen modernen Russen allgemein verständlich.

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Hätten sich aber dieselben drei mit Selenskij an den Tisch gesetzt und er hätte begonnen, mit ihnen im “modernen” Ukrainisch zu sprechen, das er spät und mühevoll erlernt hat, hätten sie um einen Dolmetscher gebeten.

Vielleicht hätten sie aber auch gar nicht nach einem Dolmetscher gefragt. Sie hätten es auf ihre eigene Weise gelöst.

Bogdan käme aus der Hütte in den Hof, wo Serko gerade seinen Säbel am Gras säubert.

“Was hat er erzählt?”, würde Bogdan verwirrt fragen.

Und Serko würde antworten: “Das weiß der Teufel, es war nicht auf Russisch.”

Übersetzt aus dem Russischen

Sachar Prilepin ist ein russischer Schriftsteller und Journalist, der in den 1990er Jahren im Krieg in Tschetschenien kämpfte. Später hat er als stellvertretender Kommandeur eines Freiwilligenbataillons der Volksmiliz der Volksrepublik Donezk in der Ukraine gekämpft.

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