Meinung

Nord Stream 2: Deutschlands Verabredung mit dem Schicksal

Nord Stream 2: Deutschlands Verabredung mit dem Schicksal

Quelle: AFP © Handout / DANISH DEFENCE / AFP

Von Pepe Escobar

Es begann mit Gazproms Enthüllung darüber, dass der B-Strang von Nord Stream 2 intakt sei. Der Strang konnte nicht nur den Terroranschlägen an den Pipelines entgehen, sondern könnte “möglicherweise” auch dazu genutzt werden, Gas nach Deutschland zu befördern. 

Dies bestätigt einmal mehr, dass Nord Stream 2 ein Wunder der Ingenieurskunst ist. Tatsächlich das ganze System: Die Rohre sind so robust, dass sie nicht zerstört, sondern lediglich beschädigt wurden.

Vierfachbumms und Doppelwumms

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Vierfachbumms und Doppelwumms

Der stellvertretende Premierminister Russlands, Aleksander Nowak, legte nach: Die Wiederherstellung des kompletten Systems, einschließlich der Nord Stream-Pipelines, sei möglich und “benötigt Zeit sowie angemessene Gelder”. Zunächst müssten allerdings – gemäß Russlands Reihenfolge der Prioritäten – die Täter identifiziert werden.

Quellen in Moskau untermauerten Gazproms Einschätzung über Nord Stream 2. Sogar Bloomberg musste darüber berichten.

Infolgedessen merkte Nowak beim Treffen der OPEC+ in Wien an, dass die Russische Föderation bereit sei, “Gas durch den zweiten Strang von Nord Stream 2 zu befördern. Dies sei möglich, wenn es die Not gebietet”.

Also wissen wir, dass es möglich ist. Ob es die “Not gebietet”, wird von Deutschlands politischer Entscheidung abhängen.

Nowak kritisierte auch scharf, dass weder Russland noch die Betreiber von Nord Stream die Terroranschläge an den Pipelines untersuchen dürften. Russland besteht darauf, dass Untersuchungen ohne seine Beteiligung mängelbehaftet seien.  

Egal, wie die genaue Vorgehensweise des Pipeline-Terroranschlags war – Inkompetenz gehörte jedenfalls dazu, denn am B-Strang von Nord Stream 2 wurden keine Sprengsätze platziert oder detoniert.

Das bedeutet, wie Nowak sagte, dass Nord Stream 2 praktisch wieder den Betrieb aufnehmen kann. Der B-Strang ist in der Lage, 27,5 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr zu transportieren, was zufällig der Hälfte der maximalen Kapazität von Nord Stream entspricht.

Nord Streams Lieferkapazität war bereits um 20 Prozent reduziert worden – aufgrund der unendlichen Turbinen-Geschichte –, bevor die Pipeline dann komplett stillgelegt wurde. Entscheidend ist, dass der B-Strang von Nord Stream 2 immer noch das 2,75-Fache der Kapazität der kürzlich eingeweihten Baltic Pipe umfasst, die von Norwegen über Dänemark nach Polen verläuft. Hierdurch profitiert grundsätzlich Polen, anders als bei der Pipeline Nord Stream 2, die mehrere EU-Abnehmerstaaten beliefert.

Die NATO untersucht die NATO

In einer rationalen Welt würde Berlin die anti-russischen Sanktionen beiseite räumen und umgehend die lange nach hinten hinausgezögerte Inbetriebnahme von Nord Stream 2 anordnen. Dies würde zumindest die von den üblichen Verdächtigen gegen Deutschland verhängten, aktuellen Prozesse der Energieverknappung, der Deindustrialisierung und der Erzeugung einer tiefen sozioökonomischen Krise abmildern. 

Der kollektive Westen hingegen lässt sich weiterhin versklaven von geopolitischen Psychopathen, die von Irrationalität geleitet werden. Eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 wird also wahrscheinlich nicht geschehen.

Die “Untersuchung” des Tathergangs der Pipeline-Terroranschläge fühlt sich im ersten Moment an wie ein Kafka-Werk, das von der NATO neu geschrieben wurde.

Für die Betreiber von Nord Stream 1 und 2 – die Nord Stream AG und die Nord Stream 2 AG mit Sitz in der Schweiz – ist es jedenfalls derzeit nicht möglich, den Tatort zu erreichen aufgrund der absurden Beschränkungen, welche die Dänen und Schweden auferlegt haben. Die Betreiber brauchen nicht weniger als 20 Arbeitstage, um die “Erlaubnisse” zu erhalten, ihre eigenen Inspektionen durchzuführen.

Die Polizei von Kopenhagen kontrolliert den Tatort nahe der dänischen ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), parallel zur schwedischen Küstenwache in den Gewässern der schwedischen AWZ.

Sacharowa: Untersuchung der Nord Stream-Sabotage kann nur mit Beteiligung Russlands objektiv sein

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Wenn dies wie eine dieser düsteren skandinavischen Krimi-Serien auf Netflix anmutet, dann, weil es eine ist. Bloß mit einer entscheidenden Wendung: Die NATO ermittelt gerade gegen sich selbst, denn Schweden steht kurz davor, der NATO beizutreten, und Russland darf nicht dabei sein. Alle herausragenden Arbeitshypothesen hinsichtlich der Pipeline-Terroranschläge deuten auf einen skrupellosen Inside Job innerhalb der NATO gegen das Mitglied Deutschland hin.        

Somit könnten alle störenden Beweise, die Rückschlüsse auf NATO-Akteure zulassen, während dieser 20 langen Tage, die für die Ausstellung der “Erlaubnisse” benötigt werden, praktischerweise “verschwinden” oder manipuliert werden.

Gleichzeitig werden sich die Konsequenzen des Energiekriegs, den die USA Europa im Kampf gegen Russland auferlegt haben, immer weiter auftürmen und die EU den kolossalen Betrag von 1,6 Billionen Euro kosten laut einem Bericht von Yakov & Partners, der ehemaligen Abteilung von McKinsey in Russland.

Wenn man von einer EU ohne Nord Stream 2 ausgeht, mit explodierenden Energiepreisen auf dem Spotmarkt, könnte das BIP der EU um bis zu 11,5 Prozent sinken (1,7 Billionen Euro), mit rund 16 Millionen Menschen, die in die Arbeitslosigkeit abrutschen.  

Dass sich die Gasreserven der EU derzeit auf einem hohen Stand (90 Prozent) befinden, bedeutet nicht, dass man ausreichend Gas für den Winter hat. Die maximale Gasreservemenge reicht für eine Nachfrage von 90 Tagen. Die EU könnte durchaus im März oder schon früher ohne Gas dastehen bei der aktuell niedrigen Liefergeschwindigkeit von Gas.  

Das heißt, dass die EU ihren Gesamtverbrauch von Gas um mindestens 20 Prozent reduzieren muss. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das aus Norwegen oder Nordamerika importierte Gas um ein Vielfaches teurer ist als Gas aus langfristigen russischen Lieferverträgen.

Die Rückkehr des Morgenthau-Plans

Der Sanktionswahnsinn hört allerdings nicht auf. Dem US-Finanzministerium zufolge visieren die G7 in drei aufeinanderfolgenden Etappen russisches Rohöl, Erdöl und Diesel an. Sie bestehen nach wie vor auf einer Ölpreisdeckelung, die weder von Russland noch von mehreren Abnehmerstaaten des Globalen Südens unterstützt wird.

Das große Bild bleibt dasselbe. Die Pipeline-Terroranschläge waren ein verzweifelter Versuch, Deutschland davon abzuhalten, mit Russland eine Sanktionsbefreiung für die Nord Stream-Pipelines zu erzielen.  

Ein geheimer Verhandlungskanal wurde nämlich aufrechterhalten. Es ist aufschlussreich zu bedenken, dass alle vorherigen Aktionen von Berlin und Moskau, die den Gasfluss hinausgezögert und eingeschränkt hatten, nur deshalb ausgeführt wurden, um das (angelsächsische) Empire davon abzuhalten, die von ihm angedrohte Zerstörung von Nord Stream 2 in die Tat umzusetzen.  

Dann hat das Empire seinen Zug gemacht.

Medien verschweigen mögliche Ukraine-Urheberschaft an Nord-Stream-Anschlag in Spiegel-Bericht

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Aus Moskaus Perspektive ändert dies nichts am Großen Schachbrett. Washingtons absolute Verzweiflung, sich sein größtes außenpolitisches Debakel seit Vietnam einzugestehen, wurde vom Kreml ausgenutzt. Die Russen verfolgen zwischenzeitlich weiter ihre Ziele bei der Speziellen Militäroperation (SMO), die kurz davorsteht, in eine Anti-Terror-Operation (ATO) auszuarten.   

Wie es derzeit aussieht, ist Moskau nicht betroffen von der verflochtenen Energie-, Kraftstoff- und Ressourcenkrise, die auf immensen weltweiten Lieferengpässen fußt.

Die Russen sind im Grunde irritierte Zuschauer und beobachten gebannt den Niedergang der Industrieproduktion in der Eurozone, die Kapitalflucht, die steigende Inflation sowie die demnächst auflodernden sozialen Unruhen.   

Von heute an bis zum G20-Treffen auf Bali im November öffnet sich ein gefährliches Zeitfenster, in dem das Empire zu irrationalen Handlungen neigen könnte. Danach wird das Spielfeld ganz anders aussehen – nicht nur auf den Schlachtfeldern in der Ukraine, sondern auch überwiegend in der EU, welche im Treibsand feststeckt.  

Der Morgenthau-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg wurde buchstäblich geschmiedet, um Deutschland aushungern zu lassen mittels der Zerstörung der Kohleminen im Ruhrgebiet. Er ähnelt auffällig dem Straussianer-Plan der amerikanischen Neocon-Psychopathen, die Deutschland von russischem Erdgas abschneiden wollen, indem sie Nord Stream 1 und 2 in die Luft sprengen.

Der erste Morgenthau-Plan hätte zur Deindustrialisierung Deutschlands geführt. Gemäß Punkt 3 sollte das gesamte Ruhrgebiet nicht nur all seiner vorhandenen Industrien beraubt werden, sondern auch so sehr geschwächt und kontrolliert werden, dass es in absehbarer Zukunft nicht mehr re-industrialisiert werden könnte.   

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Deutschlands Ende als Industriestaat hätte eine massive permanente Arbeitslosigkeit verursacht, die laut Henry Stimson, dem US-Kriegsminister, 30 Millionen Menschen betroffen hätte. Morgenthaus Antwort hierauf war, dass die überschüssige Bevölkerung in Nordafrika angesiedelt werden könnte.

Der US-Geheimdienst war sich der Wiederannäherung von Berlin und Moskau bewusst. Nord Stream 1 und 2 anzugreifen, trägt den Fußabdruck des Morgenthau-Plans, der vom Team der Straussianer und Neocons neu aufgelegt wurde.

Aber noch ist die Götterdämmerung nicht angebrochen: Das Schicksal Deutschlands liegt letztlich in seinen eigenen Händen. Es müsste nur der Schalter für Nord Stream 2 umgelegt werden.

Pepe Escobar ist ein altgedienter Journalist, Autor und unabhängiger Analyst für Geopolitik, dessen Fokus auf Eurasien liegt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf englischer Sprache bei presstv.ir. Die Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung.

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