Quelle: AFP © Turkish Presidency Press Office DiesesFoto vom 27. April 2023 zeigt den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der im Präsidentenkomplex in Ankara, Türkei, per Video-Liveschaltung eine Rede anlässlich der Lieferung von Kernbrennstoff an das erste Atomkraftwerk des Landes, Akkuyu, in der Südtürkei hält.
Eine Analyse von Irina Alksnis
Der russische Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdoğan führten am Donnerstag Telefongespräche, um anschließend an einer Online-Zeremonie zur Auslieferung von Kernbrennstoff an das türkische Atomkraftwerk Akkuyu teilzunehmen, das von Rosatom gebaut wird. Diese Veranstaltung war der erste öffentliche Auftritt Erdoğans nach den Berichten über seinen sich verschlechternden Gesundheitszustand am Vortag.
Rückschlag für NATO: Erdoğan und Putin weihen das erste Atomkraftwerk in der Türkei ein
In den vergangenen zwei Tagen wurden die internationalen Medien mit Gerüchten und Spekulationen über die Erkrankung des türkischen Staatschefs überschüttet, was laut Ankara politischen Zwecken dienen soll – und das mit Recht.
Dabei geht es nicht allein um die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei in etwas mehr als zwei Wochen. Obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass diese informationstechnische Sabotageaktivität in erster Linie darauf abzielt, die Wahlchancen Erdoğans zu untergraben, um Angst und Unsicherheit unter seinen Wählern zu säen und umgekehrt seine Gegner zu mobilisieren. Zumal die türkische Gesellschaft politisch weitgehend gespalten und der großen wirtschaftlichen Not überdrüssig ist, wobei die Soziologie davon ausgeht, dass die Opposition eine Chance hat, die Wahlen zu gewinnen. Unter diesen Umständen sind die gesundheitlichen Schwierigkeiten des Präsidenten ein Geschenk für seine Gegner.
Dennoch sollte man sich vor Augen halten, dass die gesamte Angelegenheit keineswegs rein türkisch ist. Zurzeit ist sie für den größten Teil der Welt von Bedeutung, auch wenn die Spezifika von Land zu Land unterschiedlich sind. Die Sache ist die, dass der fortschreitende Prozess einer Befreiung von der Abhängigkeit vom Westen und die Weiterentwicklung der nationalen Souveränität in fast allen Ländern der Welt mit bestimmten nationalen Führungspersönlichkeiten verbunden sind, die entsprechende Politiken verfolgen. Dabei stellt sich jedoch fast überall die Frage, inwieweit diese Politik von den nationalen Eliten unterstützt wird und ob es zu einer Kehrtwende kommen wird, wenn das amtierende Staatsoberhaupt aus dem Amt scheidet.
Analyse Wahlen in der Türkei: Ein guter Zeitpunkt für den Westen, sich an Erdoğan zu rächen
Es genügt, sich in Erinnerung zu rufen, wie die Welt vor einigen Monaten die Wiederwahl Xi Jinpings auf dem Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) aufmerksam verfolgte und dann darüber rätselte, wie die neue Zusammensetzung der Regierungsgremien die parteiinterne Dynamik beeinflussen würde, einschließlich der Frage, ob die pro-westlichen Gruppen dadurch geschwächt oder gestärkt wurden.
Und da gibt es nicht viel zu sagen, das Thema ist selbst für unser Land ein brennendes Thema. Viele Menschen glauben immer noch – manche hoffen es, manche befürchten es –, dass die Souveränität Russlands und das Wiederaufleben der russischen Großmachtstellung allein von Putin abhängen. Übrigens sind alle Äußerungen westlicher Experten und selbst offizieller Personen, wonach die Probleme des Westens durch den Sturz oder gar die Ermordung des russischen Präsidenten gelöst werden, genau darauf ausgerichtet. Sie sind dadurch begründet, dass man der Meinung ist, die russischen Eliten würden von pro-westlichen Kräften dominiert, die im Falle eines Abgangs Putins die Macht an sich reißen und Russland in die 1990er-Jahre zurückführen werden. Und in klarer Minderheit sind hier die nüchtern denkenden Experten, die eine viel größere Wahrscheinlichkeit darin erkennen, dass Putins Nachfolger letztendlich jemand sein wird, der Putin wie einen liberalen Westler ersten Ranges aussehen lässt. Ähnlich sieht es bei den Chinesen, Indern, Iranern und anderen Genossen aus.
Dagegen ist die Situation in der Türkei tatsächlich komplizierter. In den letzten Jahren, insbesondere nach dem Putschversuch des Jahres 2016, haben die Behörden hart daran gearbeitet, wichtige staatliche und gesellschaftliche Strukturen von regelrechten US-Agenten zu säubern. Die türkische Gesellschaft ist sich trotz aller Differenzen darüber einig, dass die Souveränität des Landes ein zentraler Wert ist, wobei die antiwestliche Stimmung immer stärker wird. Und allein die Tatsache, dass man sich Erdoğan von liberalen, säkularen und pro-westlichen Positionen aus widersetzt, bedeutet keineswegs einen nationalen Verrat, sollte man die Macht erlangen.
Wilde Spekulationen um Erdoğans Gesundheit – Sprecher dementiert Herzinfarkt
Ein Großteil dessen, was der Präsident der Türkei unternimmt, ist nicht auf seine geopolitischen Ambitionen zurückzuführen, sondern ist in den nationalen Interessen des Landes begründet. Schließlich ist Ankara nicht wegen Erdoğans neo-osmanischen Ideen und schon gar nicht aus Liebe zu Moskau in “TurkStream” und das KKW-Projekt “Akkuyu” eingestiegen, sondern weil es den Fluch des wachsenden Energiemangels überwinden möchte, der die Entwicklung der Türkei hemmt.
Unter normalen Umständen wird man, unabhängig von den eigenen Überzeugungen, die Arbeit des Opponenten nicht zerstören, wenn sie den Interessen des Landes dient. Das aber ist in einer normalen Situation. Im Augenblick erleben wir allerdings, wie die europäischen Marionetten-Eliten das Energiesystem und damit die Wirtschaft der Alten Welt zugrunde richten und dadurch mittelfristig ihre eigenen Länder in den Ruin treiben.
Eine Garantie, dass die türkische Opposition, sollte sie an die Macht kommen, nicht den gleichen Weg einschlagen wird, gibt es nicht. Umgekehrt – ohne jeden Zweifel daran – werden die Amerikaner alles in ihrer Macht Stehende tun, um dem widerspenstigen NATO-Verbündeten den Status eines gehorsamen Vasallen aufzuzwingen, der jedem noch so selbstmörderischen Befehl seines Gebieters bedingungslos gehorchen wird. Daraus resultiert die Sorge um Erdoğans Gesundheit – nicht nur innerhalb der Türkei, sondern auch in anderen Ländern, einschließlich Russland.
Trotzdem dominieren mehrheitlich positive Tendenzen für die Welt – so riskant sie auch sein mögen. Zu Beginn, als der Prozess von der Wiedergeburt der Souveränität und der Erosion der westlichen Hegemonie noch in den Kinderschuhen steckte, hing vieles in der Schwebe und von bestimmten Führern ab, die oftmals auf Messers Schneide standen. Seitdem ist jedoch viel Zeit vergangen, die unipolare Weltordnung fing an zusammenzustürzen, der Westen verlor den größten Teil seiner Attraktivität, und es bildeten sich neue Machtzentren, an denen Milliarden von Menschen beteiligt sind, darunter die nationalen Eliten Dutzender Staaten.
Diese Entwicklung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, selbst wenn dem Westen einzelne Siege gelingen, um dies zu verhindern. Deshalb hat die Türkei alle Chancen, sich im Kampf um die nationale Souveränität zu behaupten.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Source