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Warum bezeichnen ukrainische Medien Kiews katastrophale Gegenoffensive als Nebelkerze?

Warum bezeichnen ukrainische Medien Kiews katastrophale Gegenoffensive als Nebelkerze?

Quelle: AFP © Handout/Pressedienst ukrainischer Präsident/AFPDieses vom Pressedienst des ukrainischen Präsidenten am 30. November 2023 veröffentlichte Foto zeigt den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij bei seinem Besuch des ukrainischen Armeekommandos in Kupiansk, Region Charkiw.

Von Wladislaw Ugolni

Kürzlich behauptete der ukrainische Fernsehsender 1+1, dass die ukrainische Armee im Sommer 2023 tatsächlich keine Gegenoffensive durchgeführt habe und alles lediglich eine brillante psychologische Operation gegen den russischen Feind gewesen sei.

In dem Videobeitrag machte man sich Klischees zunutze, die in der Ukraine populär sind, um die ukrainischen Streitkräfte im bestmöglichen Licht darzustellen: Als eine geschickte und klug agierende Streitmacht, die in der Lage ist, auf dem Schlachtfeld kreative Lösungen für eine schwierige Aufgabe zu finden. Der Videobeitrag wurde von Memes in den sozialen Medien begleitet, die Ende der 2000er-Jahre populär waren und mit denen sich die Generation der Millennials leicht identifizieren können.

Einer der Kommentare zu dem Videobeitrag lautet wie folgt:

“Der Krieg wird nicht nur am Boden und in der Luft geführt, sondern auch in den Köpfen der Menschen. In Zukunft werden ukrainische psychologische Operationen Eingang in Lehrbücher finden. Eine der erfolgreichsten Operationen dieser Art war die Gegenoffensive. Mehrere Monate lang täuschten wir den Feind mit der Behauptung, wir würden eine groß angelegte Offensive durchführen. Unsere Cyber-Truppen verbreiteten diese Informationen in den sozialen Netzwerken des Feindes und pflanzten sie in die Köpfe der User. Seit mehreren Monaten sind die Russen intensiven psychologischen Operationen ausgesetzt, während unsere Truppen zusehends an Stärke gewinnen und sich auf eine echte Gegenoffensive vorbereiten.”

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Damit leugnen die ukrainischen Medien nicht nur die Realität, sondern täuschen die Bürger im Land auch weiterhin damit, dass eine neue Gegenoffensive gestartet wird, sobald die ukrainischen Truppen dafür bereit sind. Aber warum machen die ukrainischen Medien das? Warum werden der ukrainischen Öffentlichkeit solche absurden Geschichten aufgetischt? Wie und warum wurde die “Informationskonfrontation” zu einer öffentlichen Angelegenheit? Und trifft es zu, dass tatsächlich keine Gegenoffensive der ukrainischen Armee stattgefunden hat?

Der fehlgeschlagene Blitzkrieg

Der Zweck des Videobeitrags des Senders 1+1 ist, das Narrativ umzudrehen und soweit umzudeuten, dass die Niederlage der ukrainischen Streitkräfte im Grunde genommen keine Niederlage ist, sondern ein Sieg über die russische Armee. Die Idee dahinter ist, dass die Ukraine Russland täuschen konnte und Moskau seine letzten Reserven – darunter Elite-Luftlandedivisionen – in die Nähe von Rabotino verlegen musste, während die ukrainischen Streitkräfte die Vorbereitungen für eine echte Gegenoffensive fortsetzen. 

Dies soll den Menschen in der Ukraine Hoffnung geben, dass die neu formierten ukrainischen Einheiten, die mit westlicher Ausrüstung bewaffnet sind, nicht besiegt wurden, sondern sich weiterhin auf eine reale Offensive vorbereiten. Es sieht danach aus, als ob die Ukrainer glauben sollen, dass sie die angeblich leicht zu täuschenden Russen überlisten konnten. Mit anderen Worten: Die Ukrainer sollen an ihre Überlegenheit glauben.

Aber warum braucht die Ukraine ein solches Narrativ? Im Wesentlichen wird durch solche Lügen eine bestimmte Anzahl von Menschen von der aktuellen Lage abgelenkt. Zum Beispiel von der Situation rund um den Generalstabschef Waleri Saluschny. Aber auch von der Lage, über die Alexei Arestowitsch, der ehemalige Berater des ukrainischen Präsidenten, schon seit geraumer Zeit spricht: Arestowitsch beschrieb den fortdauernden Konflikt als einen langwierigen Zermürbungskrieg.

Basierend auf den Ideen einiger Mitglieder des ukrainischen Establishments sehen wir, dass die gescheiterte Gegenoffensive die Hoffnungen der Ukraine auf ein baldiges Ende des Krieges zunichte gemacht hat, was durch eine Niederlage der russischen Armee nahe Melitopol und ein Durchtrennen des Landkorridors zur Krim hätte erreicht werden können. Laut Arestowitsch hat die Ukraine ursprünglich fest damit gerechnet, diese Ziele zu erreichen. Die Ukrainer erwarteten einen solchen Blitzkrieg, als Wladimir Selenskij und andere ukrainische Offizielle zunächst die Gegenoffensive ankündigten. Diese Erfolge, sofern es sie gegeben hätte, hätten verhindern können, dass der Krieg zu jenem Zermürbungskrieg wird, der laut Saluschny für Russland zu einem strategischen Vorteil wurde.

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Die Zerstörung der aus dem Westen gelieferten ukrainischen Leopard-Panzer und Bradley-Kampffahrzeuge nahe Rabotino war nicht nur aus militärischer Sicht, sondern auch aus psychologischer Sicht bedeutend. Die Unfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte, die sogenannte Surowikin-Verteidigungslinie zu durchbrechen, zwang die einfachen ukrainischen Bürger dazu, alle Hoffnungen auf eine Rückkehr zu einem friedlichen Leben aufzugeben.

Im Herbst 2023, nachdem sich die umkämpften Gebiete in ein schlammiges Chaos verwandelt hatten, fragten sich viele Ukrainer: “Was kommt als nächstes?” Die Bürger der Ukraine fragten sich, ob sie bereit seien, weiterhin unter den Bedingungen eines ständigen, wenn auch weniger intensiven Krieges zu leben. Die Idee eines Blitzkriegs wurde nach dem gescheiterten Versuch der ukrainischen Streitkräfte, die Verteidigungslinien der Russen zu durchbrechen, fallen gelassen.

All dies verleitete die ukrainischen Medien dazu, eine imaginäre Realität zu erschaffen, in der es keine Gegenoffensive gab und alle getöteten ukrainischen Soldaten und all die zerstörte militärische Ausrüstung einfach Teil eines listigen Plans waren. Auf diese Weise konnte Kiew sein eigenes Weltbild aufrechterhalten. Eine Welt ohne existenzielle Ängste, ohne eine permanente humanitäre Krise und ohne eine kontinuierliche Mobilisierung der wehrfähigen Bürger. Aber was noch wichtiger ist: Angesichts dieser imaginären Realität muss das Land seine militärischen Kräfte und seine Vorgehensweisen nicht neu bewerten.

Darüber hinaus ist das Konzept der psychologischen Operationen für einen bestimmten Teil der ukrainischen Gesellschaft profitabel geworden. Für die sogenannte Informationsklasse, die vor dem Krieg ihr Geld in den Bereichen Politik, im gemeinnützigen Sektor oder im Marketing und PR verdiente. Diese Leute wollen die ukrainische Öffentlichkeit unter Kontrolle bringen. Von gewöhnlichen Zivilisten haben sich diese Leute zu einflussreichen Soldaten an der Informationsfront entwickelt, die sich schon zuvor um die ukrainischen Eliten geschart und ihnen Narrative und öffentliche Kommunikationsmittel angeboten hatten.

Nachdem sich die Ukraine nun in einem Krieg befindet und sich weigert, demokratische Wahlen abzuhalten, besteht die einzige Möglichkeit der Informationsklasse, ihren Einfluss aufrechtzuerhalten, darin, den Bedürfnissen des Krieges zu dienen. Aus diesem Grund wird versucht, die gescheiterte ukrainische Gegenoffensive vom vergangenen Sommer so zu behandeln, als wäre sie ein geplantes Projekt in einem größeren Ganzen gewesen. Dabei ignoriert Kiew völlig die Tausenden von Menschenleben, die während dieser Gegenoffensive verloren gingen.

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Wie es tatsächlich war und wie es sein wird

Von der eigentlichen Gegenoffensive in Richtung Melitopol erfuhr die Öffentlichkeit, als die Ukraine Anfang Juni Dutzende Einheiten von aus dem Westen gelieferten Waffensystemen und gepanzerten Fahrzeugen auf dem Schlachtfeld verlor. Die russischen Streitkräfte sorgten dafür, dass zahlreiche von Drohnen angefertigte Videoaufnahmen dies bestätigten. Angesichts dieser Videoaufnahmen und dem Ausbleiben von Stellungnahmen der Offiziellen im Staatsapparat wuchs die Frustration unter der ukrainischen Bevölkerung an. Irgendwann mussten die ukrainischen Behörden und Medien eingestehen, was Sache ist.

Als die ukrainische Armee später in Richtung Rabotino und in Richtung Artjomowsk vordrang, gab es vom Staatsapparat viele hoffnungsvolle Ankündigungen und jeder Quadratkilometer russischen Territoriums, der besetzt werden konnte, wurde frenetisch bejubelt. 

Jedoch bestand das Problem darin, dass diese Geländegewinne mit enormen Kosten verbunden waren. Die Kosten-Nutzen-Rechnung blieb für die Ukraine sehr ungünstig und zwang sie, eine Brigade nach der anderen in die Schlacht zu schicken. Ein klassisches Beispiel dafür war der Eintritt der 82. Brigade in die Kämpfe, wodurch es der Ukraine ermöglicht wurde, Rabotino einzunehmen. Aber zu diesem Zeitpunkt waren gleichzeitig alle operativen Reserven bereits erschöpft.

Unter pro-ukrainischen Experten entbrannten Diskussionen über das Verhältnis der Verluste an Ausrüstung der ukrainischen und der russischen Streitkräfte. Aus ihrer Sicht natürlich zu Gunsten der Ukraine und über die Kämpfe, die angeblich die Ressourcen des Feindes erschöpften. Als die 7. Luftangriffsdivision der russischen Streitkräfte von Cherson in die Region Saporoschje verlegt wurde, nahmen die Ukrainer dies als Vorbote des Endsiegs wahr. Man zählte jeden Kilometer bis zum Ende der Minenfelder, wo die nach NATO-Standards ausgebildeten ukrainischen Einheiten die sowjetisch geprägten Truppen Russlands mit Leichtigkeit besiegen würden.

Aber selbst bis zum Ende des Sommers gelang es den ukrainischen Streitkräften nicht, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Sie blieben in der Nähe der Wremewski-Felsplatte stecken, weshalb in der Folge Marinebrigaden dort hin verlegt wurden, um amphibische Operationen über den Dnjepr in eine andere Einsatzrichtung zu lancieren. Nach und nach verstärkten die russischen Streitkräfte ihre eigenen Offensiven in Richtung Kupjansk, Liman und Artjomowsk. Im Oktober zwang Russlands Großangriff auf Awdejewka die Ukraine zum Einsatz der 47. Mechanisierten Brigade. Jene Einheit, die im Juni die Offensive auf Rabotino startete.

Der Übergang zu einem Stellungskrieg, den russische Experten bereits im Winter 2022/23 voraussagten, wurde für die Ukraine nur sechs Monate später offensichtlich. Infolgedessen begann Kiew mit seinen westlichen Unterstützern über eine angeblich unzureichende und verspätete Militärhilfe zu streiten. Parallel dazu versprach der ukrainische Staatsapparat, dass die nächste Gegenoffensive sicherlich effektiver sein werde, falls man westliche Kampfflugzeuge erhalte. Aber schließlich musste Saluschny in einem Interview einräumen, dass Kiew eine strategische Niederlage erleiden werde, falls es der ukrainischen Armee nicht bald gelänge, die feindlichen Linien zu durchbrechen und in einen Manöverkrieg überzugehen.

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