Meinung

Warum der Westen einen Faustschlag ins Gesicht verdient

Warum der Westen einen Faustschlag ins Gesicht verdient

Quelle: Legion-media.ru Symbolbild: Kupferstich aus dem 19. Jahrhundert von Henry M. Stanley.

Von Dmitri Orechow  

Durch grundlegende Narrative erwerben die Menschen Werte und richtiges Verhalten. Ausschließlich durch die Beantwortung der Frage “Welcher Geschichte gehöre ich an?” kann die Frage “Wie soll ich handeln?” beantwortet werden. Indem man seine eigene Geschichte begreift, erlernt die Gesellschaft, ihre eigene Rolle zu spielen. Ist aber unsere Geschichte uns selbst verständlich, ist sie von uns verinnerlicht worden?

Heute sind wir in einer Konfrontation mit dem Westen angelangt, welcher den Völkern seit Jahrhunderten seine Geschichte aufdrängt. Gemäß dieser Darstellung beschert der Westen den Menschen Zivilisation und Fortschritt, bekämpft Wildheit und Ignoranz, während alle anderen (die dunklen, rückständigen, faulen, bösartigen und aggressiven) ihm in den Rücken fallen. Und das alles im Geiste der unumstößlichen und unwiderlegbaren Wahrheit.

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Eric Berne sagte einmal, dass alle Kinder als Prinzen und Prinzessinnen geboren werden, ihre Umgebung aber Frösche aus ihnen macht. Wahrscheinlich geschieht dasselbe auch mit den Völkern. Jedes Volk hat seine eigene hohe Bestimmung. Doch historisch gesehen hat der Westen seinen alleinigen Anspruch auf die Krone geltend gemacht und alle anderen gezwungen, die Rolle der Frösche anzunehmen.

Pädagogen und Psychologen wissen: Wenn man einer Gruppe immer wieder sagt: “Ihr seid so und so”, werden viele bald anfangen, sich entsprechend zu verhalten. Nicht alle Menschen sind in der Lage, der Stigmatisierung zu widerstehen. Menschen mit provinziellem Denken, Menschen, die schwach und beeinflussbar sind, geben lieber nach. Doch es gibt immer auch Rebellen. In den 1970er-Jahren brachten prominente Wissenschaftler aus der “Dritten Welt” das Narrativ von der Überlegenheit des Westens tatsächlich zu Fall.

Im Jahr 1972 veröffentlichte Walter Rodney, ein dunkelhäutiger Geschichtsprofessor an der Universität von Daressalam in Tansania, sein berühmtes Werk “How Europe Made Africa Backward”. In seiner Schrift nimmt Rodney den Mythos von der Rückständigkeit der afrikanischen Völker unter die Lupe. So zitiert er den Text eines englischen patriotischen Liedes aus dem 18. Jahrhundert, das die Briten ihren afrikanischen Sklaven aufzwangen zu singen (“Britannia rule the waves: Britons never, never, never shall be slaves!”), und er stellt eine berechtigte Frage: Wie würde die Entwicklung der Briten aussehen, wenn Millionen von ihnen während vier Jahrhunderten als Sklavenarbeitskräfte exportiert worden wären?

In einer beeindruckenden Datenanalyse kommt der Wissenschaftler zu dem Schluss, dass Afrika Europa in demselben Tempo entwickelte, wie Europa Afrika zerstörte. Im 15. Jahrhundert waren die afrikanischen Großreiche (Äthiopien, Kongo) auf einem Entwicklungsstand, der mit dem Niveau der meisten europäischen Feudalstaaten vergleichbar war; die Afrikaner produzierten Stoffe, verarbeiteten Gold und Eisen und entwickelten Handelsbeziehungen, aber die Kolonisatoren zerstörten das einheitliche Wirtschaftssystem des Kontinents und zwangen getrennte Wirtschaftssysteme dazu, externe Bedürfnisse zu bedienen.

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Die wichtigsten Erfindungen und Technologien kamen gerade wegen des ungleichen Handelsaustauschs mit den Afrikanern bei den Europäern auf; das afrikanische Gold ermöglichte es den Europäern, Goldmünzen zu prägen, Banken zu gründen und weite Seeexpeditionen zu unternehmen; gleichzeitig trugen die Europäer zur technologischen Stagnation des Schwarzen Kontinents bei. Selbst wenn die Kolonisatoren neue Technologien und Infrastrukturen (Häfen, Eisenbahnen und so weiter) in Afrika einführten, dann nicht, um den Lebensstandard der einheimischen Bevölkerung zu verbessern, sondern um die Ressourcen noch energischer abzupumpen.

Und was die sogenannte Aufklärung betrifft, so war sie lediglich eine banale Propaganda der weißen Vorherrschaft über die Schwarzen und diente dazu, bei den Afrikanern eine Sklavenmentalität zu erzeugen.

Rodneys wichtigste Schlussfolgerung war verblüffend: Der Aufstieg des Westens ist nicht auf die protestantische Ethik, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt und die Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft zurückzuführen, sondern auf fünf Jahrhunderte kontinuierlicher kolonialer Ausplünderung.

Diese fünf Jahrhunderte des Raubes und der Plünderung sind die Ursache für die Rückständigkeit Afrikas (keineswegs die Korruption, die eine Folge und keine Ursache ist, nicht die schlechten politischen Institutionen und nicht die rassische Unterlegenheit).

Professor Rodney hat für seine Überzeugungen und seinen Kampf mit dem Leben bezahlt: Im Jahr 1980 wurde er in seinem Auto in seiner Heimat Guyana in die Luft gesprengt. Das Beispiel war jedoch ansteckend. Fünf Jahre nach “How Europe Made Africa Backward” erschien ein ebenso berühmtes Werk des malaysischen Professors Syed Hussein Alatas, “The Myth of the Lazy Native”.

War das Problem für Rodney darin begründet, dass die Afrikaner einen Schock der europäischen Eroberung durchmachen mussten und die westliche Sicht der Dinge weitgehend akzeptiert hatten (bis hin zu Zweifeln an ihrer Fähigkeit, ihr eigenes Schicksal zu gestalten), so kritisierte Alatas vehement die Malaysier selbst, die sich von der kolonialen Ideologie vereinnahmen ließen und den Mythos vom “faulen Einheimischen” akzeptierten. Dieser Mythos wird von dem malaysischen Wissenschaftler akribisch und geduldig analysiert.

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Er zählt viele lächerliche Spekulationen über die “schwerfälligen und untätigen” Völker Südostasiens auf, darunter den Sinnspruch eines deutschen Gelehrten, dass “die Philippiner Ruder aus Bambus machen, um sich auszuruhen, wenn sie brechen”. Ganz anders sieht es Alatas: Die Kolonialherren kamen auf der Suche nach Gewürzen, Metall, Kautschuk und billigen Arbeitskräften auf die Inseln; sie verwüsteten den lokalen Handel, provozierten blutige ethnische Kriege zwischen den chinesischen, javanischen und malaiischen Gemeinschaften, unterjochten und versklavten diese. Die Weigerung zu arbeiten, war eine frühe Form des Widerstands der Eingeborenen gegen die europäische Plünderung und Gewalt.

Den Staffelstab des malaysischen Professors übernahm Edward Said, der 1979 sein bahnbrechendes Werk “Orientalism” veröffentlichte. Ein großer Teil des Buches des palästinensischen Professors widmet sich dem Nahen Osten und den Arabern – denselben Arabern, die nach westlicher Auffassung “auf Kamelen reiten, Hakennasen haben und alle Terroristen und korrupte Wüstlinge sind”. Professor Said argumentierte, dass die Europäer den wahren Osten nie kennenlernen wollten und sich mit einem falschen Bild davon begnügten – dem Orientalismus. Der Orientalismus beschreibt den Osten nicht als eine Realität und eine natürliche Gegebenheit und auch nicht als eine Region.

Der Orientalismus ist eine verfälschte Vorstellung vom Osten, basierend auf den imperialistischen Einstellungen des westlichen Bewusstseins. Während die Bücher von Rodney und Alatas wie eine Bombe einschlugen, war das Buch von Said ein Erdbeben. Es wurde in Dutzende von Sprachen übersetzt und an vielen Universitäten auf der ganzen Welt in die Lehrpläne für neuere Geschichte aufgenommen. Der “Orientalismus” hat eine Flut von akademischen Forschungen über koloniale und neokoloniale Mythologie ausgelöst.

Leider vermehrten sich zur gleichen Zeit in unserem Heimatland immer mehr Stiefelputzer des Westens, während in der sogenannten Dritten Welt der antikoloniale Diskurs auf dem Vormarsch war. Der Höhepunkt dieser zivilisatorischen Bewegung war die Rede von Boris Jelzin “God Bless America!” vor dem amerikanischen Kongress im Jahr 1992.

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Paradoxerweise hat Russland schon vor langer Zeit gelernt, seinen eigenen Alatas und den schlagfertigen Said zu gebären, doch das freiwillige Vasallentum unserer Elite ließ das alles in Vergessenheit geraten. Und nach mehr als 30 Jahren ist dies immer noch ein großes Problem für unsere Gesellschaft.
Selbst nach dem Beginn der militärischen Spezialoperation, nachdem viele Menschen mit dem Syndrom des kolonialen Denkens das Land verlassen haben, gibt es immer noch Liebhaber der “Westernisation”, der Liberalisierung, der Globalisierung, der digitalen Transformation und so weiter, die sich selbst als Reiter mit weißen Korkhelmen inmitten einer verblödeten dunkelhäutigen Bevölkerung sehen wollen.

Manchmal (vor allem nach einem Zuruf von oben) ist da ein Blick der Sorge in ihren Augen, ein Blick des Zweifels auf ihren Gesichtern, dann aber wieder ein seliges Lächeln auf ihren Lippen – und süße alte Vorstellungen ergreifen von ihnen Besitz.

Jonathan Swift beschrieb ähnliche Menschen in seinem Roman über Gullivers Reise auf die fliegende Insel Laputa. Die Oberschicht dieser Insel war so sehr mit Zahlen und komplizierten Berechnungen beschäftigt, dass jeder Würdenträger nur in Begleitung eines Dienerjungen hinausging, der seinen Herrn gelegentlich mit einer Klatsche auf die Lippen schlug und ihn so in die Realität zurückholte.

Wie sollen wir unsere Laputaner aus ihrer Träumerei erwecken? Sollten wir sie verpflichten, eine Prüfung über die Klassiker des antikolonialen Denkens abzulegen? Wenn sie Puschkin und Dostojewski, Danilewski und Nikolai Trubetzkoy nicht kennenlernen wollen, sollen sie Rodney, Said und Alatas studieren. Oder sollte man vielleicht Exkursionsreisen in den Kongo organisieren, damit sie ein oder zwei Tage in einer Kautschukplantage arbeiten können? Womöglich würden sie allmählich ihr Bewusstsein dafür schärfen, dass es in der Welt noch andere Geschichten gibt, die der Wahrheit näher sind als die westliche.

Zuerst erschienen bei Wsgljad. Übersetzt aus dem Russischen.

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