Umfrage zeigt: Mehrheit der Deutschen unterstützt Papst-Aussage zum “Mut zur weißen Fahne”
In Wirklichkeit machen die Option der Täuschung und die Versuchung der Selbsttäuschung – was leicht ineinander übergehen kann – die Sache jedoch komplizierter: Nehmen wir zum Beispiel die abgehörte Telefonkonferenz, bei der hochrangige deutsche Militäroffiziere darüber diskutierten, wie die Ukraine trotzdem zu ihren Taurus-Marschflugkörpern kommen und man dabei gleichzeitig eine “glaubhafte Abstreitbarkeit” aufrechterhalten könne. Die von Scholz gemachte Äußerung, dass “deutsche Soldaten zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort mit Angriffen mittels Taurus in Verbindung gebracht werden dürfen”, ist ein Hinweis darauf, dass er darüber nachgedacht hat, sich der Verantwortung zu entziehen – oder über die Möglichkeit, dies nicht tun zu können. Genau wie man es von einem Politiker erwarten würde, dessen einzige Strategie darin besteht, den Weg des geringsten Widerstands zu finden.
Anstatt zuzugeben, dass diese Telefonkonferenz stattgefunden hat, hat die Bundesregierung – in typisch autoritärer Weise – damit reagiert zu veranlassen, dass Social-Media-Konten blockiert werden, die es wagten, über diese Affäre zu berichten und das aufgezeichnete Gespräch publiziert haben – und indem man obendrein versucht hat, den Inhalt des Gesprächs als nichts anderes als ein harmloses Gedankenspiel darzustellen. Und doch bedeuten die verdächtig dehnbare Formulierung von Scholz und das Gesprächsthema der deutschen Offiziere nicht, dass ein solcher Kurs der naiv durchsichtigen Mogelei von Berlin übernommen wird. Vielleicht war es sogar eine Möglichkeit herauszufinden, dass das nicht funktionieren wird.
Die Entscheidung Russlands, diese abgehörte Telefonkonferenz zu veröffentlichen und möglicherweise sogar einen – wenn auch geringfügigen – geheimdienstlichen Nachteil zu riskieren und das Ausmaß der Durchdringung beim deutschen Militär preiszugeben, ist natürlich auch ein Signal an die deutsche Führung: Moskau wird das Spiel mit der “glaubhaften Abstreitbarkeit” nicht mitspielen und meint es absolut ernst mit dieser roten Linie. Auch dies könnte dazu beitragen, die Aufmerksamkeit in Berlin zu schärfen und weitere Mogeleien weniger wahrscheinlich zu machen.
Macrons Getrommel ging spektakulär nach hinten los
Auf jeden Fall offenbart der Umstand, dass deutsche Offiziere darüber nachdenken, wie sie zum Angriff auf Russland beitragen können, ohne deutsche Fußspuren zu hinterlassen, zwei Dinge: Öffentliche Äußerungen aus dem Westen können ohne Weiteres bewusste Lügen sein. Und selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, ist man immer offen für radikale Korrekturen. Tatsächlich hat auch Macron auf diese Tatsache angespielt und darauf hingewiesen, dass die rote Linie einer direkten militärischen Intervention, auch wenn es noch keinen Konsens gibt, so wie andere rote Linien zuvor überschritten werden könnte, wenn es plötzlich doch einen solchen Konsens gebe.
Vor diesem Hintergrund könnte das lockere Gerede von Macron auch als ein weiterer Bluff gelesen werden – oder, wie man in Frankreich sagt, als “strategische Ambiguität”: ein verzweifelter Versuch, sich so energisch wie möglich auf die Brust zu trommeln, sodass Russland seinen militärischen Vorteil nicht ausnutzen wird. Wenn das die Absicht des französischen Präsidenten war, ist es spektakulär nach hinten losgegangen. Macron hat nicht nur Deutschland, sondern auch andere, größere westliche Akteure dazu gebracht, deutlich zu machen, dass sie nicht mit ihm übereinstimmen. Hinweis an den Élysée-Palast: Es ist nicht “Ambiguität”, wenn jeder, der zählt, “Auf keinen Fall!” sagt. Und ist auch nicht sehr “strategisch”.
Dennoch wäre es selbstgefällig, sich aus der aktuellen Isolation von Macron Trost zu holen. Erstens ist die Isolation nicht vollständig: Es gibt innerhalb der EU und der NATO den harten Kern der Eskalationisten, wie die estnische Premierministerin Kaja Kallas, die Macron gerade deshalb für seinen Vorstoß gelobt hat, weil sie alle anderen in einen direkten Konflikt mit Russland hineineinziehen will. Es ist beruhigend, dass diese besonders eifrigen Kriegstreiber vorerst nicht die Oberhand haben. Aber sie sind auch nicht zum Schweigen gebracht oder auch nur angemessen marginalisiert worden – und diese Leute werden nicht aufgeben.
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Zweitens kann eine Strategie der Eskalation und der Drohgebärden leicht außer Kontrolle geraten. Man bedenke die viel zu wenig bekannte Tatsache, dass selbst der Deutsche Kaiser Wilhelm II. in der Julikrise von 1914, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, Momente hatte, in denen er heimlich vom Gefühl beschlichen wurde, dass alles noch vermeidbar sei. Dies geschah jedoch, nachdem er und seine Regierung alles dafür getan hatten, um diesen Krieg herbeizuführen. Die Lektion daraus: Wer zu viele Risiken eingeht, kann die von ihm selbst in Gang gebrachte Eskalation irgendwann nicht mehr zurückschrauben.
Drittens und am grundlegendsten ist, dass rational angewandte Unehrlichkeit in der internationalen Politik zwar nicht ungewöhnlich ist, ein internationales System aber erst Vorhersehbarkeit herstellen muss, damit es Stabilität schafft. Das wiederum erfordert, dass auch die Täuschung in stillschweigend vereinbarten Grenzen gehalten wird und – aufgrund der ihr zugrunde liegenden Rationalität – bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar bleibt. Das Problem mit dem Westen nach dem Kalten Krieg besteht darin, dass er sich dazu entschieden hat, diese Grundregel der globalen Ordnung über Bord zu werfen. Die Sucht des Westens nach Unzuverlässigkeit ist so stark, dass Signale einer Eskalation grundsätzlich glaubwürdiger sind als Signale einer Deeskalation, solange es nicht zu einer grundsätzlichen, allgemeinen und klar erkennbaren Änderung der Vorgehensweise kommt.
Oder anders ausgedrückt: Die derzeitige Isolation von Macron zählt nicht viel, da die gewissenhafte Interpretation aus der Sicht von Moskau darin bestehen muss, dass er lediglich etwas zu früh zu weit gegangen ist. Westliche Desavouierungen machen für Moskau keinen Unterschied. Was einen Unterschied machen würde, wäre ein gemeinsames und klares Signal des Westens, dass man nun zu echten Verhandlungen und einer echten Kompromisslösung bereit ist. Aber vorerst bleibt das Gegenteil der Fall.
Aus dem Englischen
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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